Ramallah schwarz geflaggt

Mit Massendemonstrationen und Märschen auf israelische Kontrollpunkte erinnerten die Palästinenser an das Elend der Flüchtlinge und Vertriebenen von 1948. Dutzende Palästinenser wurden bei anschließenden Feuergefechten verletzt

aus Ramallah YASSIN MUSHARBASH

Der zentrale Platz von Ramallah, al-Manara, ist schon am Vormittag mit tausenden Demonstranten gefüllt. Über Nacht wurden hier wie überall im Westjordanland und im Gaza-Streifen alle offiziellen Gebäude schwarz beflaggt. Am 15. Mai, dem Tag von „al-Nakba“, der Katastrophe, wollen die Palästinenser deutlich machen, dass die Staatsgründung Israels 1948 auf ihre Kosten vollzogen wurde. An Straßenkreuzungen und öffentlichen Plätzen erinnern eigens aufgestellte Zelte an das Elend der etwa 750.000 im israelischen Unabhängigkeitskrieg vertriebenen Palästinenser. Aus Lautsprechern dröhnt immer wieder die palästinensische Nationalhymne. Am Mittag spricht Jassir Arafat: In einer aufgezeichneten Rede fordert er das Rückkehrrecht der mittlerweile fast 4 Millionen palästinensischen Flüchtlinge und fordert die Palästinenser zum Durchhalten auf.

Mitten in der Menge steht auch Aischa Mansur und klatscht Beifall. Die 72-Jährige nimmt seit vielen Jahren an der Al-Nakba-Kundgebung teil. Sie floh 1948 aus einem Dorf in der Nähe von Lod. Jitzhak Rabin hatte damals den Befehl gegeben, diese Stadt zu erobern. „Wir sind zu Fuß nach Ramallah gelaufen, und nichts ist uns geblieben“, sagt Aischa, die mit der einen Hand eine palästinensische Flagge schwenkt und mit der anderen den Schlüssel zu ihrem verlorenen Haus in die Höhe hält. Viele alte Männer und Frauen tragen dieses letzte Andenken an ihre Häuser heute bei sich.

Etwa 40.000 Vertriebene und Flüchtlinge erreichten 1948 allein Ramallah, vor allem aus Lid und Ramle kommend. Bis heute leben die meisten von ihnen in Flüchtlingslagern. Obwohl nach einer UN-Resolution dazu berechtigt, hat Israel ihnen bis heute die Rückkehr verweigert.

Im Anschluss an die Rede des palästinensischen Präsidenten macht Aischa sich gemeinsam mit den etwa 3.000 Demonstranten auf den Weg nach al-Birah, einem Stadtteil von Ramallah, an dessen Ortseingang sich eine israelische Militärbasis befindet. „Ich habe seit der Flucht vor nichts mehr Angst“, erklärt Aischa und nähert sich entschlossen der „Front“, wo palästinensische Steinewerfer sich hinter einem umgestürzten Auto verschanzt haben. Die israelischen Soldaten antworten auf die Steine der Jugendlichen mit gummiummantelten Stahlgeschossen. Plötzlich jedoch schießen sie auch scharf. Die Demonstranten, unter ihnen viele Frauen und Alte, rennen panisch auseinander. Nun beziehen auch bewaffnete Palästinenser Stellung. Binnen Minuten wird aus der weitgehend friedlichen Massenkundgebung ein Feuergefecht. Die Lage eskaliert weiter, als die israelische Armee zwei Panzer auffahren lässt. Bis zum Nachmittag werden nach Angaben des Roten Halbmonds acht Palästinenser durch scharfe Muntion verletzt, einer von ihnen schwer. Ein französischer TV-Journalist wird ebenfalls verwundet.

In A-Ram, zwischen Ramallah und Jerusalem gelegen, versammeln sich zur gleichen Zeit ebenfalls mehrere tausend Demonstranten. Dort markiert ein israelischen Checkpoint die Grenze zwischen dem Westjordanland und dem israelisch annektieren Ost-Jerusalem. Als die Soldaten hier Tränengas gegen die Demonstranten einsetzten, wurde unter anderen Ahmad Tibi, palästinensisches Mitglied des israelischen Parlaments, verletzt.

Auch die Palästinenser, die heute innerhalb Israels leben, begehen den Al-Nakba-Gedenktag. Um 12 Uhr am Mittag heulten in Israel in diesem Jahr erstmals drei Minuten lang die Sirenen, um an ihr Schicksal zu erinnern. Im Gaza-Streifen wurden etwa 30 Menschen verletzt. Ein Leibwächter des Hamasgründers Ahmad Jassin war hier bereits am Morgen getötet worden.

„In diesem Jahr demonstieren wir gegen viele Dinge auf einmal“, sagt Mahmud Fallah, ein Teilnehmer der Demonstration in Ramallah, der eigens sein Lebensmittelgeschäft geschlossen hat, um mitzumarschieren: „Gegen die Vertreibung von 1948, gegen die brutale Politik Ariel Scharons, und hier in Ramallah gegen die Ermordung unserer Polizisten.“