Turbokapitalismus

■ René Polleschs „world wide web slums“ am Schauspielhaus gehen weiter

Nachdem sich die Bildschirmarbeiter der Web-slums im Turbokapitalismus langsam hochgearbeitet hatten, setzte allmählich eine ökonomische Depression ein. Der Kapitalismus erschien ihnen als unüberwindbares Schicksal, dem sie nur durch verstärkte Verweigerung entkommen konnten. Voriges Jahr erschien ein Buch von Peter Glotz mit dem Titel Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus. darin geht es nicht mehr um ökonomisch motivierte Klassenkämpfe, sondern um „erbitterte, ganzheitliche Auseinandersetzungen um die Lebensführung“.

Also der eigene Lebensstil als kritische Waffe. Die Gesellschaft sei gerade dabei, sich zu entzweien, heißt es darin: auf der einen Seite die Arbeitstiere der „new economy“, die sogar in ihrer Freizeit aktive Teilnahme, Kreativität und eine positive Einstellung bereitstellen. Auf der anderen Seite die „Zeitgauner“, glänzend ausgebildete Technologiegegner, die einfach nicht mitmachen.

An dieser Stelle setzt www-slums wieder ein. Die Folgen 8, 9 und 10 zeigen den kämpferischen Ausstieg der einstiegen Avantgarde-Arbeiter. Die ehemaligen Tele-Sklaven wehren sich mit nichtrationalem Handeln oder simplem Nichtstun gegen die Vereinnahmung durch den Markt. Die Taktik der chinesischen Kampfart Neijia beruht zum Beispiel auf zwei Prinzipien: dem Nichttun und der Ausnutzung der Fehler des Gegners. „Das Nicht-Tun“, so Lie-Zi, „hat keine Kentnisse, es hat keine Fähigkeiten, doch es gibt nichts, was es nicht wüsste, es gibt nichts, was es nicht könnte.“

Oder wie Gilles Deleuze Herman Melvilles Buch Bartelby beschrieben hat, in dem der Protagonist sich langsam aus dem Arbeitsleben zurückzieht und jede Anfrage und Bitte mit „I prefer not to“ quittiert: Bartelbys Verweigerung ist nicht der Wille zum Nichts, sondern die Zunahme des Nichts an Willen. Willkommen in der Hinterhölle des Kapitalismus. Willkommen zur zweiten Staffel der world wide web slums. Nikola Duric

Premiere: 18.5., 22.30 Uhr, weitere Vorstellungen: 19.5., 20 Uhr, 22.–24.5., 22.30 Uhr, Schauspielhaus