Zu viel Justiz macht blind

Shirley Kram, Richterin in New York, wies die Klagen gegen deutsche Banken ab. Ein umstrittenes Urteil, das diverse Interpretationen zulässt. Nach Auffassung eines Berufungsrichters hat sich Kram damit vergaloppiert. Unterdessen tun die Banken so, als hätten sie alle Zeit der Welt

Vielleicht ist das US-amerikanische Rechtssystem dem deutschen zu fremd?

NEW YORK taz ■ Der Gerichtssaal des Second Circuit Court of Appeals ist zum Bersten voll. Wer keinen Platz gefunden hat, steht in der Tür oder lehnt an der Mahagonitäfelung. „In Sachen Holocaust-Klagen gegen österreichische und deutsche Banken“, verkündet der Gerichtsdiener. Drei Richter leiten die Berufungsverhandlung .

Sie ist die jüngste Folge im Drama um den Rechtsfrieden, den die deutsche Wirtschaft als Gegenleistung für ihre Zahlungen an ehemalige NS-Zwangsarbeiter verlangt. Zur Debatte stand am Dienstag in New York die Entscheidung der Richterin Shirley Kram, die Sammelklagen gegen die deutschen Banken in Erwartung vager Gegenleistungen abzuweisen. Die Wirtschaft fordert bedingungslose Abweisung. Vor allem zwei Passagen aus dem Urteil sind umstritten. Wie „Falltüren“ führten sie geradewegs wieder in Krams Gerichtssaal, unkte Jeffrey Barist, der Anwalt der Deutschen Bank.

Der Berufungsrichter José Cabranas interpretierte die Formulierungen hingegen als „Feigenblatt“ für die Richterin. Sie habe sich im Streben nach Berücksichtigung aller Klägergruppen wohl vergaloppiert.

Im dritten Jahr seit den ersten Sammelklagen gegen deutsche Unternehmen sind die Schicksale der Opfer in den Hintergrund getreten. Immer stärker stellt sich die Frage, ob deutsches und amerikanisches Rechtsverständnis überhaupt kompatibel sind. Während sich die einen auf Punkt und Komma absichern wollen, suchen die anderen nach gesichtswahrenden Grauzonen. Auch wenn die deutsche Wirtschaft und die überwiegend jüdischen Kläger seit der Einigung auf zehn Milliarden Mark Entschädigung auf einer Seite stehen – das gegenseitige Misstrauen sitzt tief.

Nehmen wir Michael Hausfeld, der sich bei der Berufungsverhandlung auf dem letzten Stuhl in der hinteren Ecke des Gerichtssaals versteckte. Dem erfolgreichen Washingtoner Anwalt wird vorgeworfen, dass er mit David Boies kungelt, dem Rechtsbeistand der Richterin. Wie sonst ist zu erklären, dass Kram vergangene Woche einen Kompromiss aus Hausfelds Feder akzeptierte und im dritten Anlauf die Sammelklagen gegen die deutschen Banken doch noch abwies?

Auch diesmal traten Boies und die Klägeranwälte eher als Verbündete denn als gegnerische Parteien auf. Die Lösung, auf die sie hinarbeiteten: die Kram-Entscheidungen werden nicht kassiert, sondern ihr jüngstes Urteil wird korrigiert. Dem Rechtsbeistand der Richterin war anzumerken, dass seine Mandantin nichts lieber wünscht, als sich des Falls ein für alle Mal zu entledigen.

Der Anwalt der Deutschen Bank nahm darauf keine Rücksicht. Alles oder nichts, lautete sein Marschbefehl. Im Streit um die Rechtssicherheit gebärdet sich die deutsche Wirtschaft, als hätte sie alle Zeit der Welt, um auch noch die letzte Einzelklage gerichtlich klären zu lassen. Aus US-Sicht ist ein gewisses Restrisiko hingegen normal. Niemand kann Kläger daran hindern, immer wieder ihr Glück bei den Gerichten zu versuchen. „Vielleicht ist unser Rechtssystem der deutschen Seite einfach zu fremd?“, mutmaßte der Berufungsrichter James Oakes.

Im 15. Stock des Berufungsgerichts wagte jedenfalls keiner mehr, offen Optimismus zu zeigen. Zu oft tauchten nach einem vermeintlichen Durchbruch wieder neue Hindernisse auf. „Es ist, wie wenn man sich einem Horizont nähert“, sagte Hausfeld. „Jedes Mal, wenn man anzukommen glaubt, rutscht er wieder weg.“ ELLY JUNGHANS