Angst macht Beine

Einer für uns, einer für alle: Der Dichter, Prediger und Popsänger Jochen Distelmeyer und seine Band Blumfeld haben mit dem Album „Testament der Angst“ ihren Nachlass zu Lebzeiten veröffentlicht

von GERRIT BARTELS

Jochen Distelmeyer möchte gleich zur Sache kommen. Er legt keinen Wert auf ein gegenseitiges Abtasten, und er will auch nicht groß klagen darüber, dass er jetzt schon über vier Stunden in dem engen, verrauchten Konferenzzimmer eines Berliner Hotels sitzt und Interviews gibt. Die Sache, um die es so schnell wie möglich gehen soll, ist das neue, „Testament der Angst“ betitelte Album der Hamburger Band Blumfeld, der der 33 Jahre alte Distelmeyer als Sänger, Songschreiber und Gitarrist vorsteht.

Einen ersten Eindruck von dem Album konnte man sich in den vergangenen Wochen mit der vorab veröffentlichten Single „Graue Wolken“ machen: ein schöner Popsong, weich und anschmiegsam, hell und gar nicht grau; ein Song aber, der die dunkel getönte Grundstimmung des Albums vorgibt, der versehen ist mit Lyrics, die den Himmel nicht gerade voll schmachtender Saxofone hängen: „Wo kommen all die grauen Wolken her?/ ich schau draußen auf den Tag/ es regnet und ich kann nicht mehr/Wo ist der blaue Himmel hin/ ich weiß nicht warum ich lebe/ nur dass ich am Leben bin.“

Direkt in der Zeit

Im Video zu „Graue Wolken“ wiederum sieht man eine deutsche Kleinfamilie am Frühstückstisch und wie deren Tochter in die Schule fährt, dort ihren Vormittag verbringt und, wieder zu Hause in ihrem Mädchenzimmer, eine Platte von Blumfeld auflegt: Alltag, Regen, Teen Spirit – Deutschland im Frühjahr 2001.

Und mittendrin: Blumfeld, deren Schaffen Jochen Distelmeyer so umreißt: „Mit ,Ich-Maschine` hat die Band das Licht der Öffentlichkeit erblickt. ‚L’Etat Et Moi‘ war so twenmäßig-jugendlich, so nach dem Motto: Wir sind viele, die Welt ist randvoll. Auf ‚Old Nobody‘ ging es ums Älterwerden, und ‚Testament der Angst‘ ist sozusagen der Nachlass zu Lebzeiten.“

Ein Bild, ein Mensch, ein Leben: Blumfeld. Birth, School, Work, Death: Blumfeld, die Gottväter. Nicht einfach eine Band, die es zehn Jahre gibt und die vier Alben veröffentlicht hat, sondern ein lebendiger, beweglicher Organismus, der sich entwickelt und ausreift. Ein Teil davon und sozusagen das energetische Zentrum: Jochen Distelmeyer.

Der gibt zwar zu verstehen, stellvertretend auch für seine Mitspieler zu sprechen. Sagt dann aber doch öfter „ich“ als „wir“ und hat immer wieder wie ein weiser, alter Großkünstler sein Gesamtwerk im Blick: So als finde jeder Song des neuen Albums immer seinen Bezugspunkt auch bei einem älteren Stück, so als könne er Blumfeld nur als die Summe der einzelnen Teile betrachten. Aber eben auch so, als schwebe er schon ein wenig über den Dingen. Natürlich kann nun keine Rede davon sein, dass Blumfeld mit dem Album „Testament der Angst“ schon jetzt ihren Nachlass ordnen. Im Gegenteil: Fand die aktuelle Band sich doch erst für den Albumvorgänger neu zusammen. Und hat man doch nach den fünf Jahren für „Old Nobody“ eine vergleichsweise kurze Zeit für das neue Album gebraucht: „Wir haben uns gesagt“, sagt Distelmeyer, „wir machen einfach eine Blumfeld-Platte und versuchen so direkt wie möglich in die Zeit einzugreifen. Nicht so hochkomplex wie ‚L’Etat Et Moi‘, dieses unglaubliche Geflecht, und auch nicht wie ‚Old Nobody‘, das ja ebenfalls viele Möglichkeiten bot, es zu verstehen.“

Lose Verbindungen, allgegenwärtige Vernetzungen, feste Nähte. The world according to Blumfeld. Gerade mit dem letzten Album „Old Nobody“ aber schien es, als hätten sich Blumfeld von Grund auf remodelt: Gut gefönt und fein ausbalanciert, war das Album weniger politisch und verkopft als das Frühwerk und stattdessen mit mehr Popappeal und einfachen, klaren, ironiefreien Sätzen und Songs ausgestattet. Weg von Indie und Alternative, hin zu George Michael und Münchner Freiheit, raus aus dem Diskurs-Pop-Ghetto, rein in die Charts, wo es immerhin in den Top 20 landete.

Stand nun seinerzeit „das hymnische Bekenntnis zur Gesamtidee Liebe“ im Vordergrund, wie Distelmeyer einmal sehr schön formulierte, so hat sich jetzt, bei aller Betonung, die Distelmeyer auf Kontinuität und Bruchlosigkeit in der Bandentwicklung legt, der Schwerpunkt verschoben: zu einer Stimmung, die man als dunkel und zwischen Wut und Resignation changierend beschreiben kann. Ein eher ruppiges Bekenntnis zur Gesamtidee Mensch vielleicht.

Es gibt zwar mit „Wellen der Liebe“ und „Weil es Liebe ist“ zwei lupenreine Liebeslieder, die stimmungsmäßig okay gehen. Das eine versucht sich an verschiedenen Definitionen von Liebe: Liebe ist Freundschaft, Sex und Zärtlichkeit, das Ende der Ewigkeit, der Versuch, sich zu verstehen, eine Technik, ein System. Das andere eine Liebeserklärung, die laut Distelmeyer nur die nicht verstehen, die nicht wissen, wie schwer es ist, „Gefühle zu beschreiben, die erst mal keine Sprache kennen“.

Der innere Bezirk

Im Zentrum des Albums aber stehen die Stücke mit den Titeln „Eintragung ins Nichts“, „Anders als glücklich“, „Testament der Angst“ und „Diktatur der Angepassten“; Stücke, die musikalisch mal Ballade, mal wohl durchdachter Blumfeld-Rock sind. In denen besingt Distelmeyer seine Ängste: vor morgen, heute, gestern, der Nato, den USA, den Dichtern, Denkern und Bankern, davor, wie es weitergeht, und vor dem Alleinsein. In denen zeigt er Abgründe auf: „Eintragung ins Nichts – das sind wir unbemerkt und schon vergessen.“ In denen spricht er aber auch gern von „den Anderen“: „Ihr habt euch selber aufgegeben für Geld, Gestell und Genotyp“; „Ihr habt immer nur weggesehen, es wird immer so weitergehen.“

Distelmeyer ist schwer melancholisch in seinem Weltschmerz, er ist der Warner und Ankläger, der sich jetzt aus dem inneren Bezirk nach draußen wagt. Es liegt ein Grauschleier über diesen Songs, den Jochen Distelmeyer nicht wegwaschen möchte – auch nicht mit der einen oder anderen Melodie, dem einen oder anderen Lovesong oder einem lässig hingesagten: „Allright, Ladies!“

Dass das mitunter schwer peinlich ist, insbesondere was die Lyrics anbetrifft, hart an den Grenzen, an denen Kitsch tatsächlich noch erträglich ist – Distelmeyer ist das nur recht. Unterhält man sich mit ihm über die einzelnen Stücke, bekommt man das Gefühl, dass es ihm vor allem darum geht, Angebote zu machen, aber immer ganz ernsthaft. Den Albumtitel könne man als „ein Vermächtnis von Ängsten“ verstehen, aber auch, dass nun „die Zeit der Ängste selbst“ an ihr Ende gekommen sei: „Wir haben keine Angst mehr, ein Lied wie ‚Diktatur der Angepassten‘ einfach rauszuhauen, auch wenn das vielleicht selbstgerecht ist. Für Blumfeld ist es ja immer typisch gewesen, ein Problem zu benennen, selber aber zu wissen, Teil dieses Problems zu sein.“

So lebe ich, kein Einzelfall. Dazu aber kommt dieses Mal: „Nein, ich bin nicht verantwortlich für den Krieg im Kosovo. Es geht auch darum, Ängste hinter sich zu lassen, sich ihnen zu stellen, sie zu benennen.“

Wenn er so spricht, sieht er einen entweder direkt hinter seiner randlosen Brille hervor an. Oder er schaut aus dem Fenster, und es wirkt, als wäre er ganz woanders. Da redet Distelmeyer von der Ungerechtigkeit des Kapitalismus, stellt sich die Frage, warum wohl das Internet erfunden wurde (weltumspannendes Netz vs. fragmentierte Welt!), spricht davon, dass Gentechnologie ja auch was mit Frauenhass und Mutterhass zu tun habe – alles mit festem Blick und fester Stimme und ganz ohne Ironie. Dann aber wieder schweift er ab, verliert sich im reichlich Vagen, spricht von der „Angst vor dem Dunkel der Zukunft“, die alle haben, von der „Angst vor der gewalttätigen Ausleuchtung der Zukunft“, die vor allem er hat.

Ein Prediger im legeren Jeansoutfit, der es gern etwas grauwolkig hat. Ein Dichter, der Fragen aufwerfen möchte, weil er glaubt: „Die Antworten sind alle schon da, aber vielleicht haben wir die Fragen auf die Antworten verloren.“ Ein Popsänger, der lieber einen Wenn-Dann-Satz in sein Info schreibt und den als Arbeitshypothese auch stehen lassen möchte: „Wenn ‚Testament der Angst‘ das Protokoll eines Verlustes, eines Abschieds ist, dann schwingt darin auch die Erinnerung an Zeiten mit, in denen Popmusik noch kein Zeichen des Einverstandenseins mit dem Bestehenden, sondern die Stimme des Anderen, des Nichtrealisierten, des Utopischen war.“

Das sitzt, und auch wieder nicht. Denn hatte man gedacht, an diesem Nachmittag einen ausgeschlafenen Popdiskurs mit Distelmeyer führen zu können, ja, mit ihm vielleicht die veränderten Bedingungen im Mikro- und Makrokosmos Pop zu reflektieren, so weicht er doch lieber aus: Pop habe ihn nie interessiert, „nicht Pop mit drei Großbuchstaben oder einem bis drei Ausrufezeichen“. Höchstens in dem Sinn, dass ihm dieses „behagliche“ Festhalten an Indie und Alternative nicht mehr gereicht hätte: „Aber das habe ich ja an der letzten Platte versucht zu erklären.“

Einer für alle

Und die Sache mit Pop, die hat er für sich sowieso geregelt: Mit „Testament der Angst“ gehe es ihm „um den Schmerz, um die Orte, wo es wehtut“. Um die Konfrontation mit fremden Welten eben: Wenn bei einem Treffen mit seiner Major-Plattenfirma „die Verantwortlichen durch diese Platte von Kaffeeschluck zu Kuchenstück ein anderes Verhältnis bekommen zu dem, was sie machen“. Wenn „Graue Wolken“ im Radio zwischen Trailern für Möbel oder Schokolade beworben wird. Oder der Tennisspieler Nicolas Kiefer Blumfeld in „Top Of The Pops“ auf RTL 2 am Sonntagnachmittag ansagt und „das auf einmal Menschen hören, die davon noch nie etwas mitbekommen haben“.

Dann zitiert er Sätze aus seinen Songs, lässt diese ein wenig nachklingen und versucht ihnen noch mit einer Geschichte zusätzlich Nachdruck zu verleihen: „Nach einem Konzert stehe ich auf’m Klo und werde dort von zwei Typen umrahmt, die sagen: Ey, Distelmeyer, was soll’n der Scheiß, biste schwul oder was? Und dann red’ ich mit denen, nur fünf Minuten, und schon liegen sie mir in den Armen und sagen: Ey, klar, ey, Liebe ist das Geilste.“

Natürlich relativiert er diese Geschichte wieder, ja, darum gehe es jetzt auch nicht ausschließlich. Doch er glaubt dran: an sich, seine Sendung, an Blumfeld. Und dass seine Platten halten, was ihre inhaltliche Komplexität verspricht: „Ja, da wundert sich doch einer über ein neues Album von uns! Der war mit ‚Old Nobody‘ noch gar nicht fertig!“

Das freut Distelmeyer, da macht ein Album, da macht das Leben doch Sinn! Und da wirkt er bei allem partiellen Entrücktsein, bei allem Popstar-Bewusstsein einfach auch sehr sympathisch: einer von uns, einer für den Alltag, einer für alle. Einer, der sich am Ende des Geprächs auch zu einem kleinen, diesseitigen Scherz animiert fühlt: „Noch Fragen, Kienzle?“

Blumfeld: „Testament der Angst“ (Eastwest/ZickZack)