DIE EU MUSS DIE WIRTSCHAFTSREFORM IN DER TÜRKEI SOZIAL ABSICHERN
: Kapitalismus mit der Brechstange

Nach langem Zittern kamen jetzt endlich „good news“ aus Washington: Die Türkei darf neue Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank machen. Die Ernennung des früheren Weltbankvizes Kemal Dervis zum neuen Wirtschafts-Superminister des Landes hat sich also gelohnt. Trotz etlicher gescheiterter IWF-Programme haben sich die Vereinigten Staaten und die Europäische Union letztlich doch zu der Erkenntnis durchgerungen, dass die Türkei zu wichtig ist, um sie schlicht und einfach im nahöstlichen Desaster versinken zu lassen.

Doch der Preis ist hoch. Jenseits aller Korruption und Misswirtschaft, die zu Recht immer wieder beklagt worden ist, hat sich in der Türkei bis heute ein Etatismus erhalten, der sich in Zeiten der Globalisierung und des fortschreitenden Neoliberalismus fast wie ein Staatssozialismus sowjetischer Prägung ausnimmt. Große Teile der Banken und Industrie werden direkt oder indirekt vom Staat kontrolliert, die Landwirtschaft in manchen Bereichen flächendeckend subventioniert. Diese enge Verschränkung zwischen Politik und Wirtschaft führt zu einer Machtkonzentration, die fast zwingend Misswirtschaft und Korruption beinhaltet. Dieser Etatismus hat einerseits – wie im vormals realen Sozialismus eben auch – für die Menschen in der Türkei immerhin zu einer minimalen sozialen Absicherung geführt. Andererseits jedoch werden dank dieses Systems immer wieder Menschen eingestellt, obwohl ihre Arbeitskraft eigentlich gar nicht gebraucht wurde. So kommt es, dass der türkische Staat regelmäßig Tabakernten aufkauft – nur um mehr als die Hälfte schnellstmöglichst zu verbrennen. Auch wenn dieses System völlig anachronistisch geworden ist und deshalb tatsächlich reformiert gehört, droht nun unter Anleitung – manche sagen: unter dem erpresserischen Druck – des IWF eine Radikalreform, die vielen bereits jetzt schon Armen die letzten Sicherheiten raubt.

Die Einführung des Kapitalismus mit der Brechstange hat schon in Russland nicht zum Erfolg geführt – und auch in der Türkei wird ein solches Vorgehen nicht zu Demokratie und Wohlstand führen. Unter der Voraussetzung, dass in Ankara ein verlässlicher und vernünftiger Partner da ist – und Kemal Dervis wäre so ein Partner –, ist es nun an der Europäischen Union, das USA-IWF-Modell sozial etwas abzusichern. Zum Beispiel indem die Zollunion mit der Türkei endlich so gehandhabt wird, dass nicht nur die EU davon profitiert und die Beihilfen für das Anpassungsprogramm endlich auch fließen – trotz Zypern und Ägäiskonflikt.

JÜRGEN GOTTSCHLICH