Im Rückwärtsgang nach Europa

Beim Gipfeltreffen zwischen der EU und Russland meidet der Kreml die unliebsamen Fragen: Über Tschetschenien und Pressefreiheit wird kaum, über Sicherheitspolitik dagegen viel geredet. Keine Fortschritte bei Entsorgung der Atom-U-Boote

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Schon im Vorfeld des EU-Russland-Gipfels waren sich beide Seiten einig: Zu hoch gesteckte Erwartungen an das siebte russisch-europäische Spitzentreffen, das gestern in der russischen Metropole stattfand, würden unweigerlich zu Ernüchterung führen. Stattdessen bemühte man sich, die Zusammenkunft als ein Routineunternehmen zwischen vertrauten Partnern abzuhandeln. Bereits ein Blick auf die Tagesordnung verrät unterdessen, welche Masse an nicht gerade unbedeutenden Problemen Moskau und Brüssel zu bewältigen hätten.Trotz reger Reisediplomatie ist man sich in Schlüsselfragen seit Monaten nicht näher gekommen. Zu den ungelösten Problemen, die dringend einer Klärung bedürfen, zählen der Status der zukünftigen russischen EU–Enklave Kaliningrad und die gemeinsame Entsorgung nuklearer Rückstände im Nordmeer, die im Rahmen des von Brüssel mitfinanzierten MNEPR-Programms (Multilateral Nuclear Environment Programme for Russia) geplant war. Auch die von Kommissionspräsident Romano Prodi im vergangenen Herbst optimistisch angekündigte „Maßstab setzende“ Vertiefung der Kooperation im Energiebereich ist bisher nur an ein leistungsschwaches Notstromaggregat angeschlossen. Ungeachtet ambitionierter Absichtserklärungen wird weiterhin im Leerlauf Gas gegeben.

Worüber sie nicht reden wollen, daraus machten die Gastgeber keinen Hehl: das blutrünstige Wüten russischer Militärs in Tschetschenien und der Angriff des Kreml auf die letzten Bastionen der Pressefreiheit. Den Wünschen der von Prodi, Schwedens Ministerpräsident Persson und Solana, Europas Mann fürs Auswärtige, vertretenen EU-Delegation, das Thema ausführlich zu behandeln, wies man mit einer Geste rechthaberischer Selbstgefälligkeit zurück.

Statt des leidigen Ethikkodexes, mit denen die Europäer Moskau auf die Nerven fallen, erwartet der Kreml von Brüssel endlich greifbare Hilfen: Vor allem fordert er Unterstützung bei der Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO. „Wir wünschen“, hatte die Kreml-Administration am Vorabend der Troika-Visite verlauten lassen, „dass die EU-Führung ihren Unterhändlern konkrete Direktiven erteilt, damit die Aufnahmekonsultationen endlich von der Stelle kommen.“ Das Abschlusskommuniqué sprach denn auch von „intensivierten Anstrengungen der EU“, den Beitritt zu beschleunigen.

Überdies brennt dem Kreml die Sicherheitspolitik unter den Nägeln – weit mehr als den Europäern: Hat die EU für Moskau einen Platz in ihrer Sicherheitspolitik vorgesehen? Wie lässt sich Brüssel gegen das amerikanische Raketenabwehrprogramm instrumentalisieren? Dem Kreml fällt es nicht leicht, sich von der Fixierung auf Washington zu lösen. Das führt mitunter dazu, dass Schwierigkeiten vor der eigenen Haustür unterschätzt, verschleppt oder gar nicht in Angriff genommen werden. Wie die Umsetzung des MNEPR-Programms, mit dessen Unterzeichnung Russland es nicht eilig zu haben scheint. Dabei dürfte eine kooperative Entsorgung der ausgemusterten atomaren U-Boote bei Murmansk und vor der Halbinsel Kola eine mitgestaltende Rolle Russlands in einem künftigen EU-Sicherheitssystem eher befördern. Offiziell nennt die russische Seite Haftungsfragen, die die Unterzeichnung verzögern. Westliche Firmen wollten nicht für Schäden, die bei der Entsorgung entstehen könnten, aufkommen. Der wahre Grund dürfte indes ein anderer sein: Pathologischer Geheimhaltungswahn. Fazit: Moskau glaubt im Rückwärtsgang Europa zu erreichen.