Krise der Dörfer beginnt jetzt erst

Nach dem Rettungskredit des Internationalen Währungsfonds an die Türkei stabilisiert sich der Wert der Lira. Finanzmärkte reagieren positiv. Doch die Verbraucherpreise sinken deshalb noch lange nicht. Und Bauernkredite sollen gekürzt werden

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Wir sind zufrieden. Wir haben bekommen, was wir erwartet haben.“ Das Understatement, mit dem der türkische Wirtschafts- und Finanzminister Kemal Dervis auf die Entscheidung des Internationalen Währungsfonds (IWF) reagierte, entspricht zwar dem Habitus des „Retters“ der türkischen Wirtschaft, wird aber der Geschichte selbst nicht ganz gerecht.

Da kommt die balkengroße Headline von Hürriyet der Sache schon näher: „IMF – Para tamam“ ist ein gedruckter Aufschrei der Erleichterung nach dreimonatigem, zermürbendem Warten. Acht Milliarden Dollar zusätzlichen Kredit, davon 3,8 Milliarden sofort, hat der IWF-Board in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch bewilligt. Zusammen mit den bereits im November 2000 vereinbarten 11 Milliarden Dollar hat die Türkei jetzt mit 19 Milliarden Dollar einen der höchsten Einzelkredite bekommen, den der Weltwährungsfonds je vergeben hat.

Die ersten Reaktionen sind ermutigend. Die Kreditzusagen haben dafür gesorgt, dass die Interbankzinsen um fünf Punkte fielen, die Börse um vier Prozent noch oben ging und – was das Wichtigste ist – der Wechselkurs zwischen türkischer Lira und Dollar sich wieder stabilisiert.

Doch was für die ominösen „Märkte“ gut ist, ist für die Bevölkerung zunächst kaum spürbar. „Ich sehe von den Milliarden nichts“, meinte ein Kleinhändler im Fernsehen, „meine Kunden haben trotzdem kein Geld.“

Tatsächlich ist es so, dass die Februarkrise sich in ihrer ganzen Tragweite erst in den letzten Wochen bemerkbar macht. Zehntausende, die genaue Zahl kennt niemand, haben wegen Geschäftsaufgabe ihren Job verloren oder zumindest erhebliche Lohneinbußen hinnehmen müssen. Die Inflation ist dagegen sprunghaft gestiegen und betrug im März und April jeweils über 10 Prozent. Vor allem Benzin, Zucker, Alkohol und Zigaretten sind erheblich teurer geworden, aber auch die Preise für Strom, Gas und vor allem Telefon gingen nach oben.

Für den größten Teil der Bevölkerung wird es sogar erst einmal noch viel schlimmer, wenn Dervis seine Versprechen hält und die türkische Regierung dieses Mal mit den Reformen wirklich erst macht. Die versprochene Reduzierung der Staatsausgaben betrifft zwar auch den Militärhaushalt und andere Prestigeprojekte, der Löwenanteil aber wird von Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst kommen. Zehn Prozent Lohnerhöhungen bei 60 Prozent Inflation sind geradezu existenzbedrohend, wenn man als Lehrer vorher schon nur umgerechnet 300 bis 400 Mark verdient hat.

Schon jetzt ist absehbar, dass die Landwirtschaft das ganz große Problem bei der Sanierung der türkischen Staatsfinanzen und dem Umbau des Wirtschaftssystems nach marktradikalen Kriterien wird. Mehr als 50 Prozent der türkischen Bevölkerung lebt nach wie vor von der Landwirtschaft. Die Krise hat sogar dazu geführt, dass die Landflucht teilweise umgedreht wurde und etliche Familien aus den Slums von Istanbul oder Izmir wieder in ihre Dörfer zurückgekehrt sind, weil dort zumindest eine Subsistenzwirtschaft möglich ist.

Wenn aber erst einmal die Subventionen für die Landwirtschaft, wie es der IWF fordert, ganz eingestellt sind und der Staat keine Mindestpreise für die nächste Zucker-, Tee- oder Tabakernte mehr zahlt, wird es zu einem dramatischen Einbruch auf dem Land kommen.