Deutscher Meister wird . . .

Wie ich einmal bei einem nächtlichen Zauber die Chance meines Lebens vergeigte

Das sind so Geschichten, die glaubt einem kein Mensch. Nein, nicht mal die, die einen gut kennen. Und schätzen. Als ehrliches und verlässliches Urgestein. Als Fels der Wahrheit in einem Meer von Lüge und eitlem Gepränge. So einer bin ich.

Es war vor genau vier Wochen in Berlin. Baustellen-Berlin. Großkotz-Berlin. Ich ließ mich treiben auf dem Fluss, der da heißt Friedrichstraße, der da heißt Unter den Linden. Ich sah Glaskuppel und Sony-Haus, und ich erschauderte. War dies noch das Werk vernunftbegabter Menschenwesen? Ich sah all diese Menschen aus aller Herren Länder zum Reichstag torkeln, wo sie in Schlange standen, um anschließend die leeren Sitzplätze bestechlicher Politverbrecher zu besichtigen. Was für eine Welt ist dies? Irgendwann ergreift einen stumme Verzweiflung, und man taumelt davon: nur weg von diesen Linden und dieser Friedrichstraße! Gen Osten! Und man eilt in eine Bierschwemme, um sich Bruder Alkohol anheim zu stellen. Das Lokal hieß „Denis’es Weizenbierschuppen“ und war ganz genau so, wie es der Name versprach. Denise trug eine große blonde Perücke und Stiefel zum kurzen Röckchen. Sie versuchte wohl, wie Katja Ebstein auszusehen. Es war schon spät, als ich sie und ihren Weizenbierschuppen verließ. Sie schob mich freundlich hinaus, denn ich war großzügig gewesen.

Ich wankte also dahin, konzentriert meine Fußspitzen betrachtend, und war – nach einer Ewigkeit stummen Trottens – auf einmal wieder auf der Friedrichstraße. Die war leer. Völlig leer! „Das will eine Weltstadt sein?“, höhnte ich hinauf zu den stummen Glasfronten. Und: „Keine Sau unterwegs!“ Ich war wohl etwas außer mir und hörte die Stimme kaum, die plötzlich zu mir sprach: „Na, na. Bin ich vielleicht nix?“ Der kleine Herr trug ein Seidentuch. So in der Art von Johannes Heesters. Zu Pollunder und altmodischen Breecheshosen. Ich riss mich zusammen, ich bemühte mich um Haltung, bis ich sah, dass die Hosen arg stockfleckig waren und der Pollunder seine besten Tage schon vor langer, langer Zeit gesehen hatte. Vom „Seidentüchlein“ ganz zu schweigen, das er jetzt lockerte. Dahinter war eine enorme Brustbehaarung zu sehen. Dieser Herr war kein Herr. Ein Nichtsesshafter. Ein Penner.

Ich kramte routiniert im Hosensack. „Da“, sprach ich, ihm die Münze darbietend, und: „Ist schon recht.“ Er hatte aber nichts gesagt, weder „Danke“ noch „Haste mal ne Mark?“. Er sah mich nur freundlich an: „Albert“, sprach er, „Albert, du bist schon recht.“ Ich wollte abwinken und mich wieder auf meine Fußspitzen konzentrieren, da stutzte ich: Albert? Woher wusste dieser Mensch meinen Namen? Er sagte: „Ich weiß alles.“ Für einen Augenblick lichtete sich mein freundlicher Nebel: „Wie? Alles?“ „Na alles eben“, antwortete der Herr. „Du hast wohl auch schon einen intus?“ Ich vollführte die Gebärde des Zierlich-an-einem-Glase-Nippens. Er geckerte kurz: „Wenn der gekommen wäre, wärst du durchgewesen . . .“ Ich stutzte wieder: „Wenn der gekommen wäre, wärst du durch gewesen.“ Ich kannte diese Worte. Wer außer mir konnte diese Worte sonst noch kennen? Hinter dem Seidentüchlein hervor sprach es: „Ja, das hat Joschka Fischer damals zu dir gesagt. In Kassel.“ Ich nickte. „Joschka hat mich angespielt, und ein blöder Verteidiger ist dazwischengegangen . . . sonst wäre ich durch gewesen. Ehrlich.“ Das Männchen sagte: „Ich weiß.“ Ich wurde etwas ärgerlich: „Ich weiß, ich weiß. Was bist du? So eine Art Zwerg? Oder Gnom?“ Er geckerte wieder: „Genau. Beziehungsweise so ähnlich. Und weil ich so was Ähnliches bin, weißt du auch, was nun kommt.“ Ich glotzte ihn wohl ziemlich verdattert an: „Das mit den Wünschen?“ Er nickte: „Das mit dem Wunsch.“ – „Wie, nur einer?“ Irgendwie war ich enttäuscht. Drei wären besser gewesen. Der Seidenschal wackelte: „Nicht unbedingt. Wir haben das lange praktiziert, sind aber zu dem Entschluss gekommen, dass ein einziger Wunsch besser ist. Die Ein-Wunsch-Strategie zwingt den Wünscher, die sein jetziges ‚Ichsein‘ betreffende Frage zu stellen.“ Ich glotzte wieder: „Du bist kein Zwerg, du bist Sozialpädagoge.“ Er wollte sich ausschütten vor Lachen: „Das ist gut, das muss ich mir merken.“ Er wischte sich die Augen mit dem alten Seidentüchlein.

Die Straße war totenstill. Weit hinten röhrte ein Motorrad. Wir sahen uns an: „Und nun?“ – „Ach so, der Wunsch.“ Und ich sagte tatsächlich: „Wer wird deutscher Fußballmeister?“ Nun war es an ihm zu stutzen: „Erstaunlich. Aber, na gut.“ Er begann richtig aufzublühen und fing sogar an zu gestikulieren. „Das wird noch spannend. Du denkst vielleicht, Schalke ist schon durch. Aber Schalke kommt noch wahnsinnig in die Bredouille! Schalke verliert in Stuttgart.“ Man muss sich vorstellen, die ganze Sache hat sich vor vier Wochen abgespielt! „In Stuttgart?“ Ich war baff. „Das glaub ich nicht.“ – „Du wirst schon sehen. Und am letzten Spieltag geht es erst richtig rund!“ Das blöde Motorrad war inzwischen viel näher gekommen. Dieses saublöde Motorrad. Ich musste schon lauter reden. „Wie geht es aus?“ Er riss die Augen bedeutsam auf: „Das wird unglaublich dramatisch. Und zum Schluss macht es . . .“ In diesem Moment, genau in diesem Augenblick röhrte und krawallte dieses große, blöde Motorrad an uns vorbei, und man verstand sein eigenes Wort nicht mehr. Geschweige denn das eines anderen.

Ich schüttelte dem Motorrad wütend die Faust nach und drehte mich dann neugierig wieder zu meinem Zwerg: „Und nun? Wer macht’s?“ Keine Antwort. Er war weg. Ich rief: „Hallo!“ und „Das kannst du doch nicht machen!“ Aber er war unwiderruflich weg. Zuerst war ich sehr von ihm enttäuscht. Dann dämmerte es mir, dass man für eine Mark wohl nicht mehr verlangen konnte. Ein Wunsch wäre okay gewesen. Und den hatte ich gründlich vergeigt. Millionär könnte ich sein. Oder doch zumindest ein großer Stammtischkönig. Der, der den deutschen Meister Zweitausendeins als Einziger richtig vorhergesagt hätte.

ALBERT HEFELE