Der grüne Präsident

Das Staatsoberhaupt findet moralische Maßstäbe wichtiger als wirtschaftlichen Mehrwert. Damit ärgert Rau den Kanzler – und erfreut die Grünen

aus Berlin PATRIK SCHWARZ

Das Podium mit Präsidentenbanner und dem Schriftzug „Berliner Rede“ ist fein ausgeleuchtet, der Bundespräsident schreitet gerade von seinem Platz in der ersten Reihe zum Rednerpult. Da rumpelt ziemlich weit hinten im Saal noch eine verspätete Zuhörerin auf ihren Sitz. Es ist Andrea Fischer, Exgesundheitsministerin und in der grünen Fraktion eine Wortführerin der Gentechnikkritiker. Als sie eine knappe Dreiviertelstunde später wieder dem Ausgang zustrebt, ist sie begeistert von Johannes Rau: „Dass er so deutlich wird, hätte ich nicht gedacht.“

In der Tat: Rau hat in seiner zweiten „Berliner Rede“, jenseits aller präsidialen Floskeln, in den zwei strittigsten Feldern der aktuellen Gentechnikdebatte Position bezogen. Zum einen wendet sich Rau gegen die Präimplantationsdiagnostik (PID) – also die Möglichkeit, Gentests an durch künstliche Befruchtung entstandenen Embryos vorzunehmen. Sie sei eine Methode, „die das Tor öffnet für biologische Selektion, für eine Zeugung auf Probe“. Andrea Fischer hatte zwei Tage zuvor Eckpunkte der grünen Bundestagspolitik vorgestellt. „Die Zeugung auf Probe ist mit unserem verfassungsrechtlichen Verständnis der Menschenwürde nicht vereinbar“, hieß es dort.

Eindeutig ist Rau, zweitens, in seiner Ablehnung der Forschung an Embryonen – selbst wenn manche Wissenschaftler sich davon Fortschritte versprechen. „Auch hochrangige Ziele medizinischer Forschung dürfen nicht darüber bestimmen, ab wann menschliches Leben geschützt werden soll“, sagt der Bundespräsident. Die Grünen sehen das genauso: „Wer Forschung an embryonalen Stammzellen will, stellt Leben gegen Leben“, hieß es in ihrem Beschluss. „Für eine solche Güterabwägung ist keine überzeugende Begründung erkennbar.“

Mit dieser Haltung hat Rau nicht nur die Grünen auf seiner Seite. Vielmehr vertritt er im Streit um die Grenzen der Forschung eine wertkonservative Haltung, die nicht im engeren Sinne „links“ ist. Das zeigen auch die Namen der ersten Gratulanten nach seiner Rede. Karl Lehmann, Vorsitzender der katholischen deutschen Bischofskonferenz, war ebenso angetan wie der CDU-Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe, erbitterter Abtreibungsgegner und stellvertretender Vorsitzender der Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“.

Ein Anruf erreichte das Präsidialamt sogar noch, ehe Rau ans Rednerpult trat. Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, der eines der vorab diskret versandten Manuskripte bekommen hatte, stand in seiner Begeisterung der grünen Exministerin nicht nach. Das Lob Böckenfördes ist pikant, denn es verdeutlicht, gegen wen sich Raus Rede richtet – gegen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dessen ökonomisch orientierte Machbarkeitsträume. Der Gentechnik-kritische Böckenförde hatte erst vor wenigen Tagen ein Angebot Schröders abgelehnt, dessen neu gegründetem Ethikrat anzugehören. Das Gremium steht im Verdacht, es solle nur Schröders Wunsch nach mehr Pragmatismus in der Gentechnik moralisch bemänteln.

In einer direkten Spitze gegen den Kanzler fordert nun Rau, die Politik dürfe die moralische Verantwortung nicht delegieren, „nicht an Kommissionen und nicht an Räte“. Auch das Kanzleramt hält er offenbar für den falschen Ort, es müsse „politisch entschieden werden – im Parlament“.

Um Verfahrensfragen geht es in Raus Konflikt mit Schröder und Teilen der SPD jedoch nur am Rande. Die Debatte um den Beginn des Lebens und die Grenzen der Menschenwürde bringt zwei Männer gegeneinander, die als Ministerpräsidenten stets die Standortpolitik im Blick hatten – den Kohlemann Rau aus Nordrhein-Westfalen und den Automann Schröder aus Niedersachsen. Heute gibt Rau sich als Bekehrter. In Berlin erzählt er von den falschen Verheißungen der Atomenergie, „die auch ich lange Jahre für den richtigen Weg gehalten habe“.

Seine Mitarbeiter werden noch deutlicher, erzählen von Raus Sorge vor einer „Kolonialisierung des Körpers durch die Ökonomie“. Der Präsident müht sich, in der Gentechnik Grenzen einzuziehen. Standortpolitik ist nicht alles, lautet die Botschaft. Doch Rau wäre nicht der Prediger, der er ist, hielte er nicht auch eine Hoffnung bereit. Die Forscher könnten doch auch Erfolge erzielen, ohne den Rubikon zu überschreiten, also die Grenze zum moralisch Fragwürdigen. „Es ist viel Raum diesseits des Rubikons.“