Nach dem großen Schlachten

Die Ställe sind voll. Die Tiere sind unverkäuflich, brauchen dennoch Futter. Vielen Farmern droht der RuinErst hieß es, die Impfung sei zu teuer. Dann, sie wirke nicht. Dann, sie wirke zu spät. Nichts davon ist wahr

von MANFRED KRIENER

Maurice Vellacott spricht extrem langsam. Wenn es um wichtige Botschaften geht – und darum geht es eigentlich immer –, stößt er jede Silbe einzeln aus, damit bloß kein Buchstabe verloren geht. „Vor-sätz-lich“ und „mut-wil-lig“ habe die britische Regierung die Maul- und Klauenseuche unter den bäuerlichen Familienbetrieben verbreitet, artikuliert er minutiös in die Telefonmuschel, und sagt es gleich noch mal: „Vor-sätz-lich, mut-wil-lig!“ Denn die Seuche sei „eine wunderbare Möglichkeit, um uns Bauern endlich loszuwerden“.

Die Vorstellung, dass die Geheimagenten mit dem Virus im Köfferchen nächtens durchs Dorf schlichen, um das Vieh anzustecken und lästige Farmer zu vernichten, scheint lächerlich, doch der Bauer aus South Molton in den kalten Bergen von Exmoor glaubt an die Verschwörung. Zu groß ist seine Wut auf die britische Regierung, die mit ihrer millionenfachen Keulung nicht nur die Tiere grausam behandelt hat. „Ver-zweif-lung, kennen Sie dieses Wort? Wir Bauern sind wirklich ver-zwei-felt.“

Dabei ist Vellacott mit seinen 800 Mutterschafen und 100 Jungbullen noch gut davongekommen. Das Virus legte fünf Kilometer vor seinem Hof einen Stopp ein. So blieben seine Tiere vor den Killerkommandos verschont. Die Ausrottungsregel der Seuchenpolizisten besagt, dass im Umkreis von „nur“ drei Kilometern um einen Infektionsherd alle Tiere getötet werden. Vellacott lag ein paar Steinwürfe außerhalb des tödlichen Radius.

Jetzt, wo die Epidemie langsam auströpfelt, könnte er aufatmen. Aber er glaubt nicht an das Ende. Die Wahlen stehen vor der Türe, sagt er, deshalb schöne die Regierung ihre MKS-Zahlen, „die Epidemie ist noch nicht zu Ende“. Premier Tony Blair sieht das anders. Das Virus sei zwar noch nicht endgültig besiegt, aber „wir sind auf der Zielgeraden“, sagte er vergangene Woche. Blair klopfte sich selbst und allen Seuchenbekämpfern auf die Schultern, denn die Schlacht gegen diese Epidemie sei „die größte logistische Herausforderung gewesen, mit der die britische Armee in Friedenszeiten jemals konfrontiert war“. Selbst der Golfkrieg hätte nicht diesen Einsatz erfordert.

Blairs Optimismus wird von neuen Infektionszahlen garniert, die Entwarnung signalisieren. Auf dem Höhepunkt der Seuche, Mitte April, zählten die Veterinäre täglich mehr als 40 Ausbrüche. Es waren jene düsteren Tage, als das Land in den Klauen der Krankheit erstickte, als zur Massentötung ausgerückte Soldaten in Weinkrämpfe ausbrachen, und die Bolzenschussgeräte wegen Materialermüdung ihren Dienst verweigerten. Es war die Zeit, als der Verwesungsgestank die Countryside in einen einzigen großen Friedhof verwandelte.

Jetzt schlägt das Virus nur noch vereinzelt zu. Drei Ausbrüche am Mittwoch, keiner am Donnerstag. Am Freitag (bis Redaktionsschluss) ebenfalls keiner. „Wir haben die Epidemie voll unter Kontrolle“, sagt David King, der wissenschaftliche Vater der Schlagetotstrategie und Chefberater der Regierung. Schon jetzt wurden die Seuchenvorschriften in vielen Regionen gelockert. Und Tony Blair lud die Briten zum Sonntagsausflug ein: „Die Countryside hat wieder geöffnet – die beste Hilfe für das Land ist ein Besuch auf dem Land.“

So darf denn nach dreimonatigem Seuchenzug die vorläufige MKS-Bilanz gezogen werden. Auf 1.607 Höfen war die Krankheit bis gestern ausgebrochen, auf fast 6.000 benachbarten Höfen rund um die Epizentren sind ebenfalls alle Schafe, Schweine, Ziegen und Rinder gekeult worden. Insgesamt wurden bislang 2.851.000 Tiere getötet und verbrannt oder in Massengräbern verscharrt.

Aber nicht nur die Keulung ihrer Herden hat die Bauern demoralisiert. Monatelang konnten sie keine Viehmärkte besuchen, ihre Tiere nicht auf die Weide treiben. Für jeden einzelnen Tiertransport musste eine Sondergenehmigung eingeholt werden. Ausgemästete Schweine, Bullen und Kälber, die wegen des Transportverbots nicht verkauft werden konnten, drängeln sich in den Ställen. Null Einkommen, dafür aber hohe Kosten für die Fütterung. Viele Farmer stehen jetzt vor dem Ruin. Mit einem speziellen „Fürsorgeprogramm“ will die Regierung helfen. Sie kauft den Farmern, die unter dem Mobilitätsverbot gelitten haben, ihre Tiere ab und zahlt dafür 70 bis 80 Prozent des Marktpreises. Für den Wiederaufbau der Viehbestände kündigte Blair ebenfalls ein eigenes Hilfsprogramm an. „Wir werden alles tun, um den Bauern zu helfen.“ Doch ihre Zukunft bleibt düster: Bis 2005 werden nach amtlichen Schätzungen 25.000 Klein- und Mittelbetriebe kapitulieren. Der durchschnittliche britische Bauer ist ohnehin schon 58 Jahre alt, und er hat nach Pest und Cholera, nach BSE und MKS keine Lust mehr.

Aber nicht nur die Bauern sind verzweifelt. Die zweite Katastrophe war der Zusammenbruch des Tourismus. Hotels und Gästehäuser stehen leer. Wer wollte schon inmitten stinkender Scheiterhaufen und Dioxinschwaden Ferien machen – ohne Spaziergänge, Radtouren und Jagdausflüge? 250.000 Jobs könnte der Tourismus-Gau fordern. Die Zahl der gebuchten Kurzurlaube in England ist im Mai auf 14 Prozent der Buchungen im Vorjahr eingebrochen. Zu den schwer kalkulierbaren Kosten zirkulieren alle möglichen Zahlen. Umgerechnet 15 bis 20 Milliarden Mark sind die am häufigsten genannten Ziffern. Zählt man weitere 10 Milliarden für die Landwirtschaft dazu, addieren sich die Kosten der MKS-Katastrophe auf 30 Milliarden Mark.

Die rigide Sperrung aller Wanderwege, die den Urlauber zum Gefangenen machte, war die Initialzündung für den Kollaps des Fremdenverkehrs. Der „Guardian“ zählt diese Überreaktion der Londoner Regierung, die wissenschaftlich kaum gerechtfertigt war, zu ihren zwei kapitalsten Fehlern. Der andere schwerwiegende Irrtum sei der Verzicht auf Impfungen gewesen, auch auf Not- und Ringimpfungen.

Erst Ende April, als die Infektionszahlen immer weiter galoppierten, hatten Landwirtschaftsminister Nick Brown und seine Berater plötzlich Zweifel bekommen und eine Impfstrategie erwogen. Doch dann, so kommentiert süffisant Bauernfunktionär Will Cockbain von der National Farmers’ Union (NFU), „haben sie die Panik gekriegt, denn die Impfung hätte ja funktionieren können“. Als Folge hätten die Briten womöglich erkannt, dass das Totschlagen von Millionen Tieren sinnlos war. Schnell wurde das Impfen wieder verworfen. Cockbain: „Die einzige Antwort auf das Fiasko der Massentötung war der Ruf nach noch mehr Massentötung.“

Auch Bauer Vellacott ist überzeugt, dass der Versuch, das Virus mit der Keule zu erlegen, falsch war: „Wir hätten von Anfang an impfen müssen, dann hätten wir Millionen Tiere gerettet.“ Fast alle Bauern, die er kenne, hätten Impfungen gefordert. Doch die Spitzenfunktionäre der NFU, der von der Agrarindustrie beherrschte britische Bauernverband, habe sie abgelehnt, um den Export nicht zu gefährden. Unter den bäuerlichen NFU-Mitgliedern waren die Massentötungen allerdings bis zuletzt umstritten. Brown und seine Seuchenpolizisten blieben auf Kurs. Vellacott: „Ihre einzige Strategie war töten, töten, töten, und uns haben sie belogen.“

Veterinäre und Journalisten halten dem britischen Agrarminister ebenfalls vor, dass er die Impfstrategie bewusst verteufelt habe. Erst wurde die Vakzine als unbezahlbar teuer bezeichnet, dann war sie plötzlich gegen das grassierende „O-Pan-Asia“ Virus unwirksam. Oder es wurde behauptet, die Impfung entfalte ihre Wirkung erst nach zwei Wochen. „Nichts von alldem ist wahr“, erregte sich der Observer. Noch vergangene Woche behauptete Brown, es habe in seinem Land keine Unterstützung für Impfungen gegeben. Das Gegenteil ergab eine Umfrage des Tory-Abgeordneten David MacLean. Dessen Büro hatte in einer Stichprobe etwa hundert Bauern angefaxt. Ergebnis: Die große Mehrheit wollte Impfungen.

Mit ähnlich plumpen Tricks hatte Nick Brown schon einmal operiert. Als unmittelbar vor Ostern das millionste Tier gekeult wurde, blieb die sonst täglich aktualisierte amtliche MKS-Statistik im Internet mehrere Tage bei 900.000 Tierleichen stehen. Der Minister wollte die blutige Millionen-Schlagzeile zum Osterfest vermeiden.

Jetzt steht er wie ein Sieger da und lässt seinen Chefberater immer wieder betonen, wie richtig das große Schlachten gewesen sei. Bauer Vellacott hört längst nicht mehr hin. „Wir müssen militanter werden und selbst für unsere Rechte kämpfen.“ Vellacott hat sich der kleinen Bauernopposition der „Farmers For Action“ angeschlossen. Auch die FFA glauben nicht an das Ende der Epidemie. Ihre Sorge: Wenn jetzt die Tiere auf die Weide kommen, könnte eine zweite Krankheitswelle ausbrechen. Das Heimtückische dieses Virustyps: Es infiziert Schafe, ohne dass sie erkennbar krank werden. Schlimmstenfalls sitzt der MKS-Erreger unerkannt in einigen Schafherden und wartet nur darauf, dass die Kühe auf die Weide kommen. Dann könnte das große Schlachten von vorn beginnen.