Fast verwischte Spuren

■ Sonja Chevallier liest aus ihrer Rahel-Hirsch-Biographie

Frauen und Urin – eine Kombination, die besonders Männer brüskiert. Wenn das selbst in diesen Tagen noch so manchen Ekelschüttler hervorruft, leuchtet ein, dass 1907 das öffentliche Auftreten von beiden nahezu skandalös gewesen sein muss. Zu diesem Zeitpunkt nämlich stellte die jüdische Ärztin Rahel Hirsch ihre Forschungsergebnisse in der renommierten Berliner Charité vor – vielleicht als erste Doktorin überhaupt. Noch in heutigen und besonders in medizinisch ungeschulten Ohren klingt ihr Forschungsfeld abstrus: Stärkekörner und ihr Weg in den menschlichen Organismus hinein und auch wieder heraus.

Zwar heißt dieses Phänomen seit einigen Jahrzehnten „Hirsch-Effekt“. Über dessen tieferen Sinn oder gar Nutzen steht jedoch noch immer nichts fest. Vielleicht ist es der wichtigen, aber wenig sensationellen Puzzlearbeit geschuldet, dass Rahel Hirsch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ausgelacht wurde. Und dass sich heute fast niemand an sie erinnert.

Im Dienste der Erinnerung steht dafür das Buch Fräulein Professor, aus dem die Autorin Sonja Chevallier heute im Literaturhaus liest. Schon der Untertitel verweist da-rauf, dass es sich nicht um eine klassische Biographie handelt, sondern eher um „Lebensspuren“. Bezeichnenderweise nämlich ist von der Medizinerin, die immerhin als dritte Frau in Deutschland überhaupt den Professorentitel verliehen bekam, kaum eine persönliche Zeile erhalten.

Lediglich mit Hilfe ihrer wissenschaftlichen Aufsätze und Lebens-eckdaten sowie Zeitdokumenten anderer AutorInnen über Juden in Deutschland ist der Medizinjournalistin Chevallier ein ungewöhnliches Porträt gelungen. In diesem gewagten, weil recht spekulativen Unterfangen verwebt die Autorin historische Fakten mit fiktiven Dialogen, was eine unterhaltsame Lektüre mit einigem Bildungsgehalt ergibt.

In journalistischer Manier lehrt Sonja Chevallier jedoch nicht nur über Typhus und Diabetes. Besonders unter die Lupe nimmt sie auch die Rolle und Mittäterschaft der Ärzte während der NS-Zeit. Und zwischen all dem findet sich eine Frau, ohne deren Einsatz bis zu ihrer Emigration 1938 eine akademische Laufbahn für Frauen keineswegs so selbstverständlich geworden wäre. Mit ermahnendem Zeigefingergestus hat das nichts zu tun. Nur damit, dass Informieren über den Kanon hinaus unerlässlich bleibt. Liv Heidbüchel

heute, 21.5., 20 Uhr, Literaturhaus