Blindflug als System

■ Braucht Bremen einen Armutsbericht? Einen runden Tisch für spitze Fragen? Der sozialpolitische Experte Stephan Leibfried im taz-Interview

Stephan Leibfried ist Experte in Sachen Armut – in theoretischer Hinsicht jedenfalls. Der Professor für Sozialpolitik und Sozialverwaltung der Bremer Uni hat nicht nur mit seinem Forscherteam im Bremer Sonderforschungsbereich in der Studie „Zeit der Armut“ (1995, 2001) die Lebensläufe Bremer SozialhilfeempfängerInnen untersucht und festgestellt: Vor-Urteile sind hier Vorurteile, weil kaum BezieherInnen „in der Hängematte liegen“. Er war auch Berater für den ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der am 25. April veröffentlicht wurde. An der von der Bremer SPD am 7. Februar gestellten „großen Anfrage über Armut und Reichtum“, die kürzlich in der Bürgerschaft beantwortet wurde, war er nicht beteiligt.

taz: Herr Leibfried, wie beurteilen Sie die Senatsantwort auf die „große Anfrage über Armut und Reichtum in Bremen“?

Stephan Leibfried: Vielfach wird die Antwort „Armuts- und Reichtumsbericht“ genannt. Aber ein Bericht ist das eigentlich nicht. Der setzt eine umfassende Ambition voraus, und die einzige Ambition wie der Sinn dieser Antwort ist es, auf wenige gestellte Fragen meist mit Steuerdaten Antworten zu geben. Diese Antworten allein können weder Armut noch Reichtum umfassender aufschlüsseln. Die Antworten bestehen zu drei Vierteln aus Zahlen und zu einem Viertel aus Text. Der Text wiederum besteht zur Hälfte aus reiner Beschreibung oder aus „Man kann nicht sagen, ...“. Vom Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung unterscheiden die Antworten sich auch dadurch, dass sie außer – begrenzt – der geldlichen Dimension keine weiteren Dimensionen von Armut zur Kenntnis nehmen können. Zudem vergleicht sich Bremen nicht mit anderen Ländern oder Städten – der Bundesbericht würde insoweit den Bundesdurchschnitt als nötige Kontrastfolie enthalten.

Sie denken auch an Daten der Schuldnerberatungsstellen, der Wohlfahrtsverbände, Obdachlosigkeitserhebungen, Sozialhilfestichproben und so weiter?

Genau, die Steuerdaten sind interessant und wichtig. Nur für sich allein sind sie eine viel zu schmale Basis, um auch nur Aussagen über die gesamte Einkommensseite zu machen. Die meisten ausgeprägt Armen kommen zudem in den Steuerdaten gar nicht vor. Und die Menschen, die vorkommen, werden nur bei gemeinsamer Veranlagung in ihren Haushalten gesehen – und auf die kommt es bei der Feststellung von Bedarfen und bei der Verteilung an.

Also ist der Bericht ein reiner Verwaltungsakt?

Nun, es gibt in Bremen mehr verfügbare Daten: allgemeine gesellschaftliche Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, Daten zur Bildung, zur Wohnungslosigkeit, zur Verschuldung, zur Sozialhilfe, Daten über Brücken aus der Armut, undsoweiter – da ließe sich schon einiges zusammentragen. Allerdings war danach nicht gefragt: Die SPD hat nur eine „große Anfrage“ gestellt, die auf „Reichtum“ und Steuerdaten zielte. Der Senat beantwortet keine Fragen, die nicht gestellt worden sind.

Die Grünen haben einen regelmäßigen Bericht gefordert, was das Parlament aber abgelehnt hat. Was spricht denn für einen solchen Bericht?

Eine regelmäßige, alle drei oder vier Jahre stattfindende Berichterstattung über die Verteilung von Lebenschancen kann eine Stadt, die im westdeutschen Vergleich eher im ausgeprägten Armutsspektrum liegt, durchaus als eine Art Früh- oder gegebenenfalls Spätwarnsystem begreifen. Beim Bericht der Bundesregierung geht es um die Fragen: Driftet unsere Gesellschaft auseinander? Wo? Wie? Wird sie weiter im Stande sein, gemeinsame Wege zu gehen? Diesen Fragen muss man sich in Bremen wohl erst recht stellen, weil wir hier eine eher dramatischere Verteilungslage haben als im westdeutschen Durchschnitt. Blindflug als System tut nicht einmal Vogel Strauß gut. Soweit mir bekannt, hat die Sozialbehörde durchaus Interesse an einem solchen Bericht.

Also ist eine solche Berichterstattung nicht nur ein „Instrument des Klassenkampfes“, wie die CDU in der Bürgerschaft vermutete?

Die CDU hätte das Recht auf ihrer Seite, wenn man ihr die Auffassung unterstellt: „Unterkomplexe Fragen müssen zu Polemik führen.“ Aber dann hätte die Antwort der CDU lauten müssen: „Fragen Sie doch komplexer, problemangemessener!“ Heiner Geißler und andere haben in der CDU durchaus mit Hilfe der Sozialberichterstattung solche Fragen gestellt, als sie vor drei Jahrzehnten die „neue soziale Frage“ aufgeworfen haben ...

Würde es bei einer solchen Berichterstattung nicht in erster Linie darum gehen, die Wirkungen der eigenen Politik sichtbar zu machen?

Natürlich. So eine Überprüfung müsste an sich bei einer aufgeklärten Verwaltung Routine sein. Wenn ein System sich selbst steuern will, sollte es wissen: Welche gesellschaftlichen Ergebnisse produziere ich? Dabei ist allerdings zu beachten, dass über 80 Prozent dessen, was in Bremen produziert wird, vom Bund oder der EU bestimmt wird. Bremer Eigensinn hat nur noch eine begrenzte Reichweite. Auch dann sollte man „vor Ort“ wissen wollen, wo gesellschaftlich der Schuh drückt oder wo er einem gedrückt wird. Bremen sitzt auch im Bundesrat und hat eine aktive Vertretung in Brüssel, kann also dort politisches feedback geben. Eigentlich wäre es an der Zeit, dass die Wohlfahrtsverbände und die Kirchen „in Bremen und umzu“ einen runden Tisch bildeten. Sie könnten dort auf der Grundlage des Bundesberichts überlegen: Wie könnte und müsste ein Bremer Armutsbericht aussehen? Am Ende könnte ein relativ zuverlässiges System von „Indikatoren“ stehen, das das bisherige System verbessert und mit dem sich Veränderungen ins Negative oder Positive routinemäßig feststellen ließen.

Einfach mal so mit dem Reichtums-Löffel in die Steuer-Zahlen-Suppe zu langen und dabei kein systematisches Frage-Design zu verfolgen, bringt uns nicht viel weiter.

Fragen: Elke Heyduck

Der Armuts- und Reichtumsbericht des Bundes ist im Internet unter www.bma.de einsehbar.