Ein elektronischer Staubsauger

von WOLFGANG GAST

Big Brother is watching you! Weltweit werden E-Mails, Telefone und Fax-Verbindungen unter der Federführung der USA von Geheimdiensten abgehört. Das System dafür trägt einen Namen: „Echelon“. Es hat auch eine Niederlassung in der Bundesrepublik – im bayerischen Bad Aibling, in einem von der US-Armee betriebenen Aufklärungsstützpunkt mit einem riesigen Antennenpark.

Außer Großbritannien sind noch Kanada, Australien und Neuseeland dem amerikanischen Netz Echelon angegliedert. Das globale Lauschsystem wurde zu Beginn des Kalten Kriegs 1948 im Rahmen eines Abkommens zwischen Großbritannien und den USA aus der Taufe gehoben (und nach ihnen UKUSA genannt), um die Funkaufklärung gegen die Warschauer Vertragsstaaten und die Volksrepublik China effektiver zu gestalten. Deshalb wurde nach und nach ein weltweites Netz von Abhörstationen aufgebaut.

Heute, nach dem Fall der Mauer und dem Ende der Blockkonfrontation, dient das System vor allem der Wirtschaftsspionage. Mindestens zehn solche hochmodernen Stationen sollen rund um den Globus in Betrieb sein. Sie funktionieren wie ein riesiger elektronischer Staubsauger, der alle elektronisch verschickten Nachrichten aufsaugt, komprimiert und in einem Art Filtersystem durch die riesigen und superschnellen Computer des amerikanischen Nachrichtendienstes NSA schickt, welche die Nachrichten mit Hilfe von moderner Texterkennungssoftware auf vorher programmierte Schlüsselwörter, wie etwa Bomben oder Anschlag, in den verschiedensten Sprachen durchsuchen und speichern.

Doch kann ein solches System tatsächlich funktionieren? Der erste, der dieses Orwellsche Horrorszenarium ausmalte, ist ein Profi im Nachrichtengeschäft: Der frühere Agent des Ministeriums für Staatssicherheit Rainer Rupp spionierte im Brüsseler Hauptquartier der Nato unter dem Decknamen „Topas“ für die Stasi. Daneben gibt es ein 39 Seiten umfassendes Arbeitsdokument des Europäischen Parlaments über Echelon, das in den vergangenen drei Jahren in den Parlamenten von Berlin, Brüssel und Paris diskutiert wurde. Aufgeschreckt über das angebliche Ausmaß der Wirtschaftsspionage, richtete das Europäische Parlament im Juli vorigen Jahres außerdem einen Sonderausschuss Echelon ein. Ende Mai soll jetzt ein Entwurf des Ausschussberichtes vorgestellt werden.

Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union wurden vom Ausschuss nach Kenntnissen über Echelon abgefragt. Der frühere belgische Außenminister Louis Michel antwortete, ihm erscheine die Existenz eines elektronischen Abhörnetzes „erschreckend wahrscheinlich“. In einer ersten Stellungnahme teilte die Bundesregierung von Helmut Kohl im April 1998 mit, sie verfüge über keine entsprechenden Kenntnisse. Zwei Jahre später hieß es aus Berlin: Was die Existenz von Echelon betreffe, so gehe die Bundesregierung unter Gerhard Schröder davon aus, dass es zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation eine Zusammenarbeit mehrerer englischsprachiger Länder bei der Fernmeldeaufklärung mit der Bezeichnung Echelon gegeben habe. Über den gegenwärtigen Stand habe sie keine genauen Informationen, sie habe auch keine Kenntnis über eine Gefährdung der Privatsphäre der Bürger oder die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.

In Frankreich legte im Oktober vorigen Jahres der Verteidigungsausschuss der Nationalversammlung einen Bericht zum Thema Abhörsysteme vor. Berichterstatter Arthur Paecht zog den Schluss, Echelon existiere, es handele sich bei ihm um das einzige bekannte multinationale Überwachungssystem. Echelon sei von den ursprünglichen Zielen abgekommen, die in den Kontext des Kalten Krieges eingebunden waren – „es sei nicht unmöglich, dass die gesammelten Informationen zu politischen und wirtschaftlichen Zwecken gegen andere Nato-Staaten eingesetzt werden“.

Für Finnland führte Ende März vergangenen Jahres Innenminister Seppälä aus, Echelon sei vor allem zur Sammlung politischer und militärischer Informationen im Rahmen des Warschauer Paktes verwendet worden, später haben sich die Ziele von Echelon auf nicht militärische Ziele wie Terrorismus, Drogenhandel und Geldwäsche ausgeweitet. Vor kurzem sei der Verdacht aufgekommen, dass die USA Echelon für Wirtschaftsspionage verwende.

In Großbritannien, einem Mitgliedsstaat im Echelon-Verbund, verweigerte die Regierung jede Stellungnahme. EU-Botschafter Sir Stephen Wall versuchte die Kommission in Brüssel mit der Behauptung zu besänftigen, alle Lauschoperationen seien gesetzlich gedeckt und parlamentarisch kontrolliert, sie dienten ausschließlich der „nationalen Sicherheit, der Sicherung des ökonomischen Wohlergehens der Nation und der Verhütung und Aufdeckung von schwerer Kriminalität“.

Zum Beleg der Wirtschaftsspionage der USA werden immer wieder die gleichen Beispiele angeführt. So soll der amerikanische Nachrichtendienst NSA 1994 Telefonate zwischen der französischen Firma Thompson-CSF und brasilianischen Regierungsvertretern abgehört haben. Gegenstand war ein satellitengestütztes Überwachungssystem für den tropischen Regenwald. Den Zuschlag für das 1,6 Milliarden-Geschäft erhielt später die amerikanische Raytheon Corporation, die von der US-Regierung einen Hinweis erhalten haben soll.

Ein Jahr später soll die NSA Faxe und Telefonate zwischen dem europäischen Airbus-Konsortium, der saudiarabischen nationalen Fluglinie und der saudiarabischen Regierung abgefangen haben. Das Airbus-Konsortium ging leer aus, den 6-Milliarden-Auftrag erhielt der US-Konkurrenten Boeing.

Es war ein alter Fuchs im Geheimdienstgeschäft, der mit einem frechen Bekenntnis die europäischen Befürchtungen im Frühjahr 2000 bestätigte: der frühere CIA-Direktor James Woolsey. Er drehte dabei den Spieß um: „Ja, meine kontinentaleuropäischen Freunde“, schrieb Woolsey in einem Beitrag für das Wall Street Journal, „wir haben euch ausspioniert. Und es stimmt, wir benutzen Computer, um Daten nach Schlüsselwörtern zu durchsuchen. Aber habt ihr euch auch nur für einen Augenblick gefragt, wonach wir suchen?“ Die Antwort lieferte der frühere Haudegen von der unsichtbaren Front gleich mit: „Wir haben euch ausspioniert, weil ihr mit Bestechung arbeitet. Die Produkte eurer Unternehmen sind oftmals teurer oder technologisch weniger ausgereift als die eurer amerikanischen Konkurrenten, manchmal sogar beides. Deshalb bestecht ihr so oft.“

Was aber kann Echelon nun tatsächlich? Sechs Monate hat der Brüsseler Sonderausschuss Experten für Kommunikation, nationale Sicherheit und unabhängige Forscher angehört. Gerhard Schmid (SPD), Vizepräsident des Europäischen Parlaments und Berichterstatter des Sonderausschusses, zieht folgende Bilanz: „Es gibt mindestens ein global arbeitendes Abhörsystem für Satellitenkommunikation.“ Ob dieses Abhörsystem den Codenamen Echelon trage, sei unerheblich: „Es existiert, unter welchem Namen auch immer.“ Die Möglichkeiten eines solchen Systems, so Schmid weiter, würden aber „hoffnungslos überschätzt“.

Wenig schmeichelhaft ist für die Europäer eine andere Erkenntnis von Berichterstatter Schmid: „Die Nachrichtendienste zumindest der großen Staaten betreiben Abhörsysteme, mit denen die private Auslandskommunikation ohne besondere richterliche Anordnung registriert wird. In der EU sind dies zum Beispiel Dienste in Dänemark, Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien.“ Die USA hätten ihre „Möglichkeiten gebündelt“, um amerikanischen Unternehmen einen besseren Zugang zu den internationalen Märkten zu verschaffen. Schmid geht davon aus, dass dies auch „zum Aufgabengebiet der Nachrichtendienste der EU-Staaten“ gehöre. Der Wirtschaftskrieg, sagt der Vizepräsident des EU-Parlaments, hat den Kalten Krieg abgelöst.

Der Mantel des Schweigens wird auch unter Freunden und Verbündeten nur ein wenig gehoben. Eine Reise des EU-Untersuchungsausschusses zum Thema Echelon nach Washington in der vorvergangenen Woche endete mit einem Eklat. Die Amerikaner wollten die Parlamentarier nicht empfangen. Die Gespräche, erfuhren die Europäer, wurden auf Druck des US-Außenministeriums abgesagt.