Tocotronic hören in Kratzeburg

Aus dem Leben linker Jugendlicher: Was alles passieren kann, wenn man in ein Jugendmediencamp fährt und dort feststellt, dass man eigentlich auf ein Musikfestival mit Gerhard Gundermann gelockt worden ist. Eine Kurzgeschichte von Stephan Zeisig

Wie schlimm stand es um sie, wenn sie sich vom Tennis Besserung versprachen?

Meine erste Bekanntschaft mit Tocotronic machte ich im Mai 1996 in Kratzeburg auf dem Jugendmediencamp. Da fuhren die hin, die vor dem Camp meinten, später mal was im Medienbereich machen zu wollen, um das nach dem Camp nicht mehr zu meinen. Zwar wurden Medien-Workshops angeboten, die sollten aber nur verschleiern, dass wir eigentlich auf ein Musikfestival gelockt worden waren.

Alle äußeren Umstände sprachen dafür: Kratzeburg war ein Kaff in der mecklenburgischen Provinz, im Volksmund auch Woodstock 96 genannt – den Volksmund konstituierte hier die Kratzeburger Zeltplatzleitung. Die ganze Angelegenheit zog sich über drei Tage hin; die 25 Mark Teilnahmegebühr waren eigentlich ein verkappter Eintritt; wir campten, und weil es permanent schüttete, taten wir das im Schlamm.

Ich verfügte als Einziger über ein wasserdichtes Bergzelt, in dem noch Platz war für zwei Mädchen. Ich suchte mir die schönsten aus, konnte sie aber nur so weit bringen, mit mir im Zelt Todesanzeigen aus der FAZ zu studieren. Weitergehende Zärtlichkeiten waren ihnen nicht abzuringen.

Mir blieb daher nur, mir einen Workshop zu suchen. Ich entschied mich gegen den Rhetorikkurs und für den Radio-Workshop, dies aus zwei Gründen: zum einen rhetorisierte ich schon in rühmlicher Eloquenz, zum anderen tummelten sich im Rhetorikkurs die liberalen Jungen, während im Radio-Workshop die linksextremen Mädchen mit den Pali-Tüchern nur auf mein Sichdazugesellen zu warten schienen.

Unsere Linksheit münzten wir auch sofort in politische Arbeit um. Wir machten unter den Dauercampern eine Umfrage, ob sie es eigentlich richtig fänden, Russland einen 25-Milliarden-Mark-Kredit zu gewähren, wo doch den Zechen im Ruhrpott die Subventionen gekürzt wurden. Wir unterschlugen dabei, dass die Kredite vom IWF stammten, während die Subventionskürzungen von der Bundesregierung vorgenommen wurden, somit also kein Zusammenhang bestand. Aber die brauchten ja nicht alles zu wissen.

„Was sagen Sie dazu, dass Russland 25 Milliarden Mark Kredit gewährt wird?“ – „Ähh?“ – „ . . . und den deutschen Zechen dafür Subventionen gekürzt werden?“ – „Ähh . . . also . . . ich finde das nicht so toll.“

Prompt folgte die Aufklärung: „Die Kredite sind aber vom IWF“, und die dem investigativen Journalismus verpflichtete Frage: „Sie sind wohl Nazi?“ – „Ähh . . . nein, ich glaube nicht.“

Am Ende der Umfrage stand fest: Sechs von acht Kratzeburger Dauercampern waren Nazis, die übrigen zwei hatten sich geweigert, an der Umfrage teilzunehmen, was auch dafür sprach. Allerdings begrüßten die Leiter unseres Workshops unseren Vorschlag nicht, die Ergebnisse über den Zeltplatzfunk zu veröffentlichen. Sie fürchteten, wir würden damit Befindlichkeiten tangieren, deren Träger sich dann dafür stark machten, dass wir das Camp im kommenden Jahr nicht mehr in Kratzeburg veranstalten können. Im Grunde genommen waren die Workshops ohnehin nebensächlich. Wir waren ja eigentlich auf einem Festival. Oder genauer: Tocotronic-Release-Festival. Tocotronic hatten nämlich gerade ihr Album „Wir kommen um uns zu beschweren“ rausgebracht. Der einzige Antagonismus am Tocotronic-Release-Festival lag darin, dass es ohne Tocotronic stattfand.

Dafür erschien aber der andere Act: ein Baggerfahrer mit dem seltsamen Namen Gundermann, quasi der Support. In einer Regenpause mussten wir uns seine akustisch vorgetragenen Liedermacherstücke anhören, die uns nicht wirklich animierten. Aber er war ein linker Liedermacher und wir linke Jugendliche. Das verpflichtete zu Solidarität. Geholfen hat’s ihm nicht. Kurze Zeit nach seinem Auftritt starb er an Krebs. Für Tocotronic musste dagegen auf die neuesten Errungenschaften der multimedialen Welt zurückgegriffen werden: Kassettenrekorder und Akustikgitarren. 50 Prozent der Jugendlichen konnten die Lieder schon auswendig spielen, weitere 49 Prozent zumindest mitsingen. Das restliche Prozent bestand aus mir. Mit der Band konnte ich nichts anfangen. Ähh, Tocotronic? Ist das die Band von Technotronic? Die machen doch Techno, oder?? Damit lag ich nicht wirklich richtig. Als ich zum ersten Mal ihre Texte vernahm, wusste ich auch noch nicht, ob es ratsam war, sich schon eine abschließende Meinung zu bilden: „Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren / das Spiel ist sicherlich nicht schwierig zu kapieren“.

Diesen Wunsch konnte ich nicht nachvollziehen. Natürlich war das nicht schwierig zu kapieren. Aber das sprach ja gerade dagegen, sich dafür interessieren zu wollen. Dann hoffte der Sänger auch noch, glücklicher zu sein, wenn er sich dafür interessieren könnte. Ich hatte mich jahrelang für Tennis interessiert, ohne damit glücklicher geworden zu sein, eher unglücklicher, weil meine Lieblingsspieler immer verloren haben. Wie schlimm musste es erst um Tocotronic stehen, wenn sie sich von Tennis Besserung versprachen? Auch andere Lieder waren verwirrend: „Ich weiß nicht, wie konnte das geschehn / die Welt kann mich nicht mehr verstehn / ich bin heute morgen aufgewacht/ und es war noch mitten in der Nacht / und ich weiß nicht genau, ob es so etwas gibt / und ob es an der Zeitungsstellung liegt“.

Was? Zeitungsstellung!? Später erfuhr ich, dass es Zeitumstellung lautete, was aber auch nicht mehr erklärte. Die Musik war zwar weniger umstritten, aber mit meiner kritischen Haltung zu den Texten gab es auf weiter Flur niemanden neben mir. Tom Waits durfte ich nur auf Walkman hören, wollte ich es nicht riskieren, meine Kassette zur Zerstörung freizugeben. Auf die Mädchen müsste ich als Außenseiter doch eigentlich Faszination ausüben, sagte ich mir. Hieß es nicht immer, Mädchen führen auf Typen ab, die ihren Musikgeschmack mit keinem anderen teilten?

Tocotronic war nun mal die Band meiner gymnasialen Generation

„Hier, hör mal! Tom Waits. Hört keiner außer mir“, steckte ich eigenhändig mehreren Mädchen meine Kopfhörer in die Ohren. Ich setzte darauf, dass sie so begeistert sein würden, dass sie mich nach meiner Adresse fragten. Weit gefehlt. Sie fragten mich nicht nur nicht nach meiner Adresse, sondern verboten mir, sie nach ihrer zu fragen. Dafür bemerkten sie: „Was ist denn das für Rummelmusik? Hat der Lungenkrebs? Tom Waits ist doch total out, Elternmucke! Wir leben im Jahr 1996, Mann! Der wird erst wieder 1999 in sein, mit seinem nächsten Album ‚Mule Variations‘ .“ Nur bei einem Jungen hatte ich Erfolg. Ich verbat ihm aber, mich nach meiner Adresse zu fragen und schrieb mir statt dessen seine auf, eine kümmerliche Ausbeute für ein verlängertes Wochenende unter Gleichaltrigen.

Als Tocotronic-Fan hätte ich es gewiss einfacher gehabt. Zwei Jahre später hatte ich mich dazu durchgerungen, die Band doch gut zu finden. Tocotronic war nun mal die Band meiner gymnasialen Generation. Und die Texte waren auch nicht wirklich doof, nur so verkleidet – ein ausgefuchster Trick, um sich blöde Hörer zu ersparen. Und ich war drauf reingefallen: „Ich bin ganz sicher schon mal hier gewesen / doch ich weiß nicht mehr wann / es muss die Zeit gewesen sein, in der alles begann / ich fühl mich ganz o.k. jetzt / es ist gar nicht so schlimm / es ist nur manchmal ärgerlich / dass ich so müde bin“.

Wer so was sang, war zweifellos die beste Band, die es je in Deutschland gegeben hat. Im Grunde genommen waren Tocotronic besser als sie selbst. Das klingt logisch. Vor allem waren sie besser als zu der Zeit, als ich anfing, sie zu hören. Das war nämlich erst zu einer Zeit, als Leute begannen, Tocotronic gut zu finden, wegen denen andere Leute aufhörten, Tocotronic gut zu finden, um zu resignieren und sich für Tennis zu interessieren: Tocotronic-Hörer mit Handy, eigentlich ein Widerspruch in sich und eine Vorstellung, für die man 1992 noch ausgelacht worden wäre.

Und ich, ich hörte nicht Handy, das ging gar nicht. Dafür war ich wieder mal zu spät gekommen, wie immer. Meine Jugend verpennt, zurückgelassen, irgendwo in Mecklenburg, und mir blieb nur meine Nostalgie und das Vorhaben, wenn ich eine Geschichte über Tocotronic schreiben würde, sie so beginnen zu lassen: „Es war einmal ein Kratzeburg . . .“