Das Trotzdem-Prinzip

Kinder machen arm – aber ein VW Golf auch. Extremsport ist normal – dafür gelten inzwischen Eltern als extrem

Jeden Abend vor dem Schlafengehen schleiche ich ins Kinderzimmer. Leise atmend, Schnuller im Mund, liegt mein Sohn Jonas da und träumt von Wölfen, die Feuer speien, und von Drachen, die durchs Zimmer fliegen. Das Gesicht ruhig, die Arme weit von sich gestreckt und die Decke weggestrampelt, 98 Zentimeter groß, blonde Haare, Schuhgröße 25. „So also“, denke ich dann, „sieht mein Armutsrisiko aus.“

Das sagen jetzt alle, die sich von Berufs wegen Sorgen machen: Regierung, Kirchen und Gerichte. Und Eltern natürlich. Denn Kinder sind inzwischen nicht mehr niedlich oder nervig, nicht mehr das Glück auf Erden oder die Pest am Hals. Kinder sind ein Wirtschaftsfaktor. Und zwar ein negativer. Kinder kosten Geld. Oft sagen das sogar die gleichen Leute, die sonst den „Terror der Ökonomie“ beklagen: Das ganze Leben werde unter die Knute des Kapitals gezwungen. Ein Leben müsse doch in mehr zu messen sein als in Mark.

Es stimmt ja. Kinder kosten Geld. 150.000 Mark zahlen wir Eltern der unteren Einkommensklassen, um einen Nachkömmling bis zum 18. Lebensjahr durchzufüttern, rechnet das Familienministerium. Dazu kommen 320.000 Mark, die wir verlieren, weil wir unseren Kleinen den Arsch wischen und in der Zeit nicht dem Chef in selbigen kriechen können. Macht 470.000 Mark pro Kind. „Ohne euch drei Kinder hätten wir uns ein Haus leisten können“, sagt meine Mutter manchmal, wenn sie sich in ihrer Plattenbauwohnung umsieht. Und dann erzählt sie von Freunden, die ohne Kinder und Enkel in ihren leeren Eigenheimen sitzen, während bei ihr fünf Enkel die Tapete mit Kuli voll malen. Und sie strahlt dabei.

Natürlich ist die Armut von Familien ein Skandal in einem Land, das sich über hundert Sorten Hundefutter leistet. Vor allem allein Erziehende, meist Mütter, haben schlechte Karten: schlechter Job, schlechte Bezahlung, schlechte Kindergärten, schlechtes Gewissen.

Für Rechner heißt das: Bloß keinen Nachwuchs! Lieber Roulette in Las Vegas! Der amerikanische Nobelpreisträger Paul Samuelson meint ohnehin, wenn Menschen sich rational verhielten, hätten sie keine Kinder.

Aber wann sind wir rational? Vielleicht beim Autokauf? Schon der VW Golf kostet 500 Mark im Monat. In 18 Jahren sind das auch knapp 110.000 Mark. Haben Sie schon mal Ihren Kleinwagen als Armutsrisiko gesehen? (In den neuen Ländern ist er das tatsächlich. Jedenfalls ist es dort weitaus billiger, nur 92.000 Mark, ein Kind artgerecht zu halten.) Oder haben Sie schon mal Ihren Verdienstausfall errechnet, wenn Sie jeden Tag 3 Stunden und 10 Minuten vor dem Fernseher sitzen, wie die Marktforscher als Durchschnitt ermittelt haben? Vielleicht sind Sie hinterher dümmer, aber ärmer bestimmt nicht. Was zählt, ist der Blickwinkel: Sind zum Beispiel Leute mit Kindern eher arm – oder haben arme Leute eher Kinder? Oder diese Meldung: Fast jede dritte Frau, die 1965 geboren wurde, bleibt kinderlos. „Dies ist auch Versäumnissen der Politik anzukreiden“, schreiben die Nachrichtenagenturen. Rot-Grün ist also auch noch veranwortlich dafür, was in den Betten passiert – oder nicht passiert. Gibt es wirklich Leute, die bei romantischer Zweisamkeit Kindergeldtabellen und Kitabroschüren wälzen, statt zur Sache zu kommen? Ich jedenfalls habe mich nie für Erziehungsgeld und -urlaub interessiert, bis es akut wurde.

Die viel bejammerte Ökonomisierung des Lebens zeigt sich am besten im allgemeinen Börsenwahn. Plötzlich mutieren konservative Familienväter zu hemmungslosen Zockern. Risiko ist das neue Zauberwort, nicht nur in der Wirtschaft. Normal ist es, sich mit einem dünnen Seil kopfüber in eine tiefe Schlucht zu stürzen. Wer sein Kind durch den Park schiebt, ist dagegen Extremist. Denn die Risikogesellschaft frisst ihre Kinder. Sich mit russischen Staatsanleihen in den Ruin zu stürzen, ist akzeptiert. Aber Nachkommen erscheinen vielen als unkalkulierbares Risiko, das im sozialen Absturz enden kann. Da hilft es auch nicht, dass sich die Kleinen jetzt mit dem Dosenpfand ihr Studium 50-Pfennig-weise zusammensammeln können.

Aber Kinder sind die lebenden Beweise für das „Trotzdem“-Prinzip. Wenn Jonas einmal nicht die Milch umkippen soll, weil wir schnell wegmüssen, macht er es trotzdem. (In dunklen Stunden verdächtige ich ihn sogar, es nicht nur trotzdem, sondern genau deshalb zu machen.) Wenn seine Freundin Ella bitte jetzt nicht die Windpocken bekommen soll, weil die Eltern doch eine Reise gebucht haben, können Sie sich vorstellen, was passiert. Und wenn Kinder als Armutsrisiko gelten, kommen sie trotzdem auf die Welt. Und bereichern unser Leben.

Bernhard Pötter