Der Schuldenerlass

Alfred Herrhausen und Wolfgang Grams: Wie der eine zum Täter und der andere zum Opfer wurde, diese nahe liegende Frage lässt Andres Veiel in seinem Dokufilm „Blackbox BRD“ weit hinter sich

von KATJA NICODEMUS

Zunächst scheint alles glasklar. Eine Kamerafahrt bewegt sich langsam auf einen völlig ausgebrannten und demolierten Mercedes zu. Mit tonloser, immer wieder stockender Stimme erzählt Traudl Herrhausen, wie sie am 30. November 1989 kurz nachdem ihr Mann mit seinen Bewachern davonfuhr, eine Detonation hörte. In einem Home Movie albert das spätere RAF-Mitglied Wolfgang Grams ausgelassen mit Freunden am Strand herum. Sonnenschein, Joints, Ferienstimmung.

Das private Bild aus der Vergangenheit eines vermutlichen Täters und das öffentliche Fernsehbild des Anschlages auf Alfred Herrhausen, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, für dessen Ermordung die RAF die Verantwortung übernahm: Wie der eine zum Täter und der andere zum Opfer wurde, wäre die nahe liegende, von jeder Fernsehreportage aufgeworfene Frage nach der Kausalität der Ereignisse – die Andres Veiel schon am Anfang seines Dokumentarfilms „Blackbox BRD“ weit hinter sich gelassen hat.

Für Veiel ist es unerheblich, ob Wolfgang Grams, der 1993 am Bahnhof von Bad Kleinen bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben kam, am Herrhausen-Attentat tatsächlich beteiligt war. Genauso unerheblich wie die Frage, ob ein Haar ihn nun womöglich mit dem Tod des Treuhandchefs Rohwedder in Verbindung bringt. Andres Veiel geht es um Parallelführungen, um Geschichten, Erlebnisse, Prägungen, subkutane Einflüsse, die am Ende so etwas wie Biografien ergeben.

Schon in seinem Dokumentarfilm „Die Überlebenden“, der das Schicksal von drei seiner Klassenkameraden nachzeichnete, die Selbstmord begingen, wurde die Biografie nach und nach zum Symptom für etwas anderes – die erstickende Stimmung und das Leistungsdenken in der schwäbischen Provinz.

Wolfgang Grams und Alfred Herrhausen, die zwei Lebensgeschichten, die in Veiels Dokumentarfilm „Blackbox BRD“ langsam transparent werden, geben nach und nach den Blick frei auf ein Stück politische und private BRD-Geschichte, ein Panorama zwischen kleinbürgerlichen Kindheiten, linkem Widerstand und dem imperialen Selbstverständnis in der Chefetage der Deutschen Bank.

Es geht um die Sozialisation eines so genannten Funktionsträgers und um eine Hand voll Menschen, die zumindest in einem bestimmten Zeitraum gegen seinesgleichen und die Generation ihrer Eltern agiert haben, auch wenn sie heute vor den gleichen Kleingartenlauben und Eichenschränken sitzen wie die Alten.

Andres Veiels Kunst besteht darin, dass er zeigt, ohne vorzuführen. Zum Beispiel eine Jugend in Wiesbaden-Erbenheim, wo der Vietnamkrieg auf der US-Airbase gegenüber stattfand. Wenn der Vater von Wolfgang Grams sagt, dass er seinen Sohn am liebsten im „Musikzug“ bei der Bundeswehr gesehen hätte, wenn die Mutter den bescheidenen Wohlstand als Lebensziel beschreibt, wenn die Tischordnung erklärt wird und der Alte irgendwann stotternd versucht, von seiner Bewerbung bei der Waffen-SS zu erzähen, dann entsteht der seltene Eindruck, dass ein Film gemeinsam und auf gleicher Höhe mit seinen Gesprächspartnern versucht, einfach nur zu verstehen.

Obwohl „Blackbox BRD“ den Familien, Freunden und Mitstreitern von Grams und Herrhausen gleichberechtigt das Wort erteilt, hakt sich die Trauer von Traudl Herrhausen am stärksten im Gedächtnis fest. Vielleicht, weil der Schmerz in den Pausen liegt, im Zögern, mühsamen Durchringen und im Kampf mit der immer wieder wegbrechenden Stimme. Es ist die Haltung einer Frau, die gelernt hat, sich zusammenzureißen.

In einer großen Kreisbewegung, die neben Grams’ und Herrhausens Freunden fast den gesamten Vorstand der Deutschen Bank mit einschließt, wird „Blackbox BRD“ zu einer polyfonen Kulturstudie, in der die Art des Sprechen häufig mehr sagt als das Gesagte. Zum Beispiel wenn Hilmar Kopper, der heutige Aufsichtsratsvorsitzende des Unternehmens, mit süffisantem Lächeln und einer Mischung aus aufgesetzter Jovialität und mühsam unterdrückter Antipathie über Ungeduld und Ungestüm des toten Kollegen spricht. Oder wenn ein Vorstandsmitglied versonnen erzählt, dass Herrhausen unter den jüngeren Mitarbeitern „leidenschaftliche Verehrer gehabt habe“.

Wodurch Herrhausen den Bankern und besonders Kopper verdächtig wurde, war ein ideologischer Schwenk und erstaunlicher Paradigmenwechsel: Nach einem Treffen mit dem damaligen mexikanischen Präsidenten Miguel de la Madrid Hurtado schlug Herrhausen in der Chefetage der Deutschen Bank einen Schuldenerlass für die Länder der Dritten Welt vor – „eine typisch intellektuelle Bemerkung“, so Kopper heute. Obwohl Herrhausen damit eine öffentliche Debatte zur Schuldenkrise auslöste, scheiterte er im Machtkampf mit den konservativen Managerkollegen, die in seinem Plan nicht mehr als einen linken Spleen sahen.

Dass Alfred Herrhausen ausgerechnet zu dem Zeitpunkt in die Luft gesprengt wurde, da er die für einen Banker wahrscheinlich größtmögliche geistige Annäherung an die Ideen der Attentäter vollzogen hatte, lässt seine Ermordung als eine Art Treppenwitz der BRD-Geschichte erscheinen.

„Blackbox BRD“, das ist auch ein politischer Sound und vor allem eine Atmosphäre. Aus Archivmaterial und selbst gedrehten Bildern rekonstruiert Veiel eine Ära als Assoziationsteppich: Die Fahndungsmeldung in der „Tagesschau“, Aufnahmen aus der fiktiven Überwachungskamera, Herrhausens Familienalbum, eine Schmidt-Rede, Gefängniszellen. Einmal sieht man Otto Schily wie ein Phantom auf der Beerdigung von Holger Meins herumstehen. Es ist die von der RAF, 68 und allen Zeitläuften unerschütterte Macht des Kapitals, für die Veiel seine besten Bilder findet.

Ob die Kamera an der verspiegelten Repräsentationsarchitektur der Deutschen Bank entlanggleitet, einsame Sekretärinnen vor der Skyline der Finanzmetropole stehen oder Putzfrauen die Bildschirme und Schreibtische für den nächsten Kongress polieren – „Blackbox BRD“ lässt keinen Zweifel daran, wer die Geschichte und alle Geschichten dieses Films überlebt hat. Wie ein riesiger schwarzer Monolith ragt der Turm der Deutschen Bank im Schlussbild in den Frankfurter Abendhimmel.

„Blackbox BRD“, Regie: Andres Veiel, Deutschland 2001, 102 Min.