Verwildertes Berlin

Die Natur hat sich Brachen der Großstadt zurückerobert. Der BUND will diese „Urwälder von morgen“ sichern. Die meisten Flächen sind bedroht

von KATJA BIGALKE

Wildnis hat etwas mit natürlichem Chaos zu tun. Je nachdem, für welche Gesellschaftsideale der Begriff verwendet wird, als romantisch verklärte Utopie oder als menschenfeindlicher Urzustand – Wildnis wird immer als Gegenteil von Zivilisation genannt. Jean-Jaques Rousseau räumte dem ersten Zaun, der um ein Stück wildes Land errichtet wurde, sogar den Stellenwert eines Grenzsteins ein: zwischen Naturzustand und bürgerlicher Gesellschaft.

Beim Berliner BUND ist man da pragmatischer. Die „Freunde der Erde“ richten sich nach der Definition der Internationalen Union zum Schutz der Natur und der natürlichen Ressourcen (IUCN). Danach handelt es sich bei Wildnis um ein „großes, unverändertes oder nur leicht verändertes Gebiet, das seinen natürlichen Charakter und Einfluss bewahrt hat und nicht ständig oder nur unwesentlich bewohnt wird“.

Solche Gebiete hat der BUND auch in Berlin ausfindig gemacht und die Kampagne „Wildnis in Berlin“ ins Leben gerufen. „Man kann hier zwar nicht wirklich von Wildnis sprechen, aber immerhin von Verwilderung“, sagt Albert Wotke vom BUND-Landesvorstand. Aus einem großen Teil der Brachflächen sollen die „Urwälder von morgen“ werden. Mitten in der Stadt. Mit allem, was dazugehört: wildem Wasser, wildem Wald und wilden Tieren.

Die Gosener Wiesen unterhalb des Müggelsees sind zur Zeit das Wildeste, was die Stadt zu bieten hat. Hier gibt es die Aloeblättrigen Krebsscheren, Kuckuckslichtnelken und Sumpfdotterblumen. Hier sagen sich Schöngesichtige Schließmundschnecken, Bekassinen und Neunstachlige Stichlinge gute Nacht. Nur der wilde Biber (lateinisch: Castor) fehlt. Als unberechenbares Nagetier wurde er im 17. Jahrhundert aus der Stadt vertrieben. Jetzt kommt er wieder. Im Herbst will der BUND vier Castorenpärchen aus Sachsen-Anhalt hertransportieren.

Aber die eigentliche Verwilderungskampagne gilt nicht den Gosener Wiesen – die sind schon Naturschutzgebiet. Vielmehr plädiert man für das Sich-Selbst-Überlassen brachliegender Flächen, wie etwa dem Gleisdreieck in Kreuzberg. Dessen Birken gelten schon als „Vorwald“. Bis zum Wald fehlen dem Gleisdreieck aber noch 70 Jahre Ruhe. Doch die wird es nicht geben, denn hier ist ein „innovatives Stadtquartier“ geplant. Die derzeit 63 Hektar Vorwald werden auf 21 Hektar „Park mit seltener Vegetation und schützenswerten Tierarten“ reduziert.

Überhaupt hängt viel Wildnis von der Bahn ab. Dass sich Silbergras, Bergsandglöckchen und Rotklee selbst in Berlin-Mitte, auf dem Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs, noch über einer Fläche von etwa 30 Fußballfeldern ausbreiten können, verdanken sie den besonderen Bahnverhältnissen. Vor der Wende gehörten sämtliche Bahngelände der DDR-eigenen Reichsbahn. Im Westen der Stadt lagen die Flächen brach, weil die Deutsche Bahn kein Nutzungsrecht hatte, im Ostteil der Stadt, weil das Schienennetz nicht komplett genutzt wurde. Alles, was kreucht und fleucht, zog es zu den Schienen. Heute heißt das Motto der Bahn „Pilzkonzept“ statt Wildnis. Berlin soll zu einem der größten Eisenbahnknotenpunkte Europas werden. Und damit droht vielen Grünoasen das Ende. Aber den geheimen Gärten wird wohl kaum jemand nachweinen können. Aus versicherungsrechtlichen Gründen sind die meisten Urwälder schon heute verschlossen.

Auch sonst hält sich die Stadtwildnis nicht unbedingt an die Lehrbuchdefinition. Wildnis ist in Berlin nicht nur umzäunt, sondern auch bewohnt. Im Urwald an der Wollankstraße, wo es kein Durchkommen durch das Dickicht aus Kastanien, Eichen und Ahorn gibt, hat ein Hundezüchterpaar erste Zeichen der Zivilisation gesetzt. Inmitten der romantischen Wildnis mit bunten Tupfern von Flieder und Goldregen liegt ein umzäunter Garten nebst Zwinger voller Dackel und Schäferhunde. Stiefmütterchen stecken adrett in Blumenkästen. Auf dem Dach: eine Überwachungskamera.