Hahn oder Hähnchen

Früher marschierten sie, von der rotbackigen Bäuerin kommandiert, stolz um den Misthaufen. Heute siechen sie in Betonhallen, zusammengepfercht mit 280.000 Brüdern. Warum das männliche Huhn hierzulande kein echter Hahn mehr sein darf

von ANDREA FINK-KESSLER und MANFRED KRIENER

Haben Sie schon einmal „Coq au vin“ gegessen? Das ist Französisch und heißt „in Wein geköchelter Hahn“. Hahn wie Gockel, also so einer, der früher auf dem Hühnerhof herumspazierte. Da wir den Kräher aber nur noch aus Kinderbüchern kennen, müsste es bei uns korrekterweise „in Wein geköcheltes Hühnchen“ heißen. Gegen diese Übersetzung protestiert der Franzose. Das sei etwas anderes – ein Hahn sei nun mal kein Hühnchen. Da hat er Recht! Vor Jahren haben wir im Burgund einen in Rotwein geschmurgelten französischen Hahn gegessen: Das vom Wein dunkelbraun gebeizte Fleisch schmeckte kräftig, fast wie Wild. Nichts davon erinnerte an unsere Hähnchen, bei denen das Fleisch schneller vom Knochen fällt, als die Köchin den Topf aus der Röhre ziehen kann.

Die zwei bis drei Kilogramm schweren französischen Hähne dürften ein lustigeres Leben als unsere Masthähnchen verbracht haben. Unter Kontrolle des bereits 1965 gegründeten Markenprogramms „Label Rouge“ aufgezogen, leben diese echten Hähne bis zu hundert Tage lang und werden damit alt genug, um ihre sexuelle Reife zu erreichen. Ab der fünften Woche genießen sie Licht, Luft und Sonne im Auslauf, Käferchenpicken inklusive. Das Wachstum beschleunigende Futterzusätze sind verboten, Vitamine und andere Zusatzstoffe nur begrenzt zugelassen.

Jeder dritte in Frankreich verzehrte Hahn stammt aus diesem ambitionierten Programm, und die Franzosen lassen sich diesen Genuss etwas kosten. Solch ein Prachthahn kostet keine 5,99 Mark, eher 25,99 Mark. Die Hähne sind echte Coqs. Schon die Rasse ist vornehmer, nur langsam wachsende Linien werden gemästet.

Unsere Hähnchen sind dagegen auf schnelles Wachstum gezüchtet, sie erreichen nach intensiver Fütterung in Rekordzeit das gewünschte Lebendendgewicht von 1.600 Gramm. Gerupft und ausgenommen, bleibt ein kärglicher Schlachtkörper: unser dürres, bleiches Tausendgrammhähnchen. Vor dreißig Jahren lebte ein Hähnchen bei uns gute 55 Tage, heute sind es 32. Von sexueller Reife kann dieses Hähnchen nur träumen.

Von Früchten oder Tomaten verlangen wir, dass sie reif sind. Das sollte auch für Fleisch gelten. Der ökonomische Zwang, zur Hähnchenmast ausschließlich schnell wachsende Zuchtlinien zu verwenden, hat verheerende Folgen: In den Brutanlagen für Legehennen fallen nämlich fünfzig Prozent männliche Tiere an.

Da Hähne keine Eier legen, wurden sie früher zur Mast eingesetzt. Heute sind sie wertlos, weil sie aus Legehennenzuchtlinien stammen und ihre Gene nicht auf schnelles Muskelwachstum programmiert sind. Als Folge werden in der Bundesrepublik jedes Jahr 45 Millionen frisch geschlüpfte männliche Küken im so genannten Kükenvermuser von rotierenden Messern getötet.

Hähnchen werden heute intensiver gemästet als alle anderen Nutztiere. Hier ist die Entwicklung regelrecht explodiert. Und mit ihr der Verbrauch. 1952 aßen die Deutschen 1,2 Kilo Geflügel pro Kopf und Jahr. 1999 waren es 15,2 Kilo, davon mehr als die Hälfte (acht Kilo) Hähnchenfleisch. Vor fünfzig Jahren konnte sich ein Industriearbeiter von seinem Stundenlohn zweihundert Gramm Hähnchenfleisch kaufen, heute kriegt er vier ganze Broiler.

Zucht, Brut, Haltung und Schlachtung sind extrem rationalisiert. Der durchschnittliche Bestand einer professionellen Mästerei in Deutschland liegt heute bei 35.000 Tieren. Während die Besatzdichte stieg, sank die Zahl der Mastbetriebe in den alten Bundesländern von zweihunderttausend im Jahr 1973 auf 48.000 im Jahr 1992. Heute zählt Gesamtdeutschland laut „Marktbilanz 2000“ der Agrarberichtstelle noch zwölftausend Hähnchenmäster. Bäuerliche Mäster arbeiten in engem vertraglichem Verbund mit wenigen Großunternehmen, denen Brüterei, Futtermittelherstellung und Schlachterei gehören. Die Zahl der Erzeuger, die mehr als hunderttausend Tiere halten, ist auf siebzig angewachsen. Sie liefern gut die Hälfte aller Hähnchen. Die Durchschnittsgröße dieser großen siebzig: 280.000 Hähnchen – in einer einzigen Anlage.

Der moderne Hühnerstall ist eine strukturlose, häufig auch fensterlose Betonhalle mit Futterautomaten und Belüftungsanlage. Üblicherweise werden 20 bis 25 Tiere je Quadratmeter gehalten. Die Hähnchen nehmen täglich 65 Gramm an Gewicht zu. Anfang der Sechzigerjahre lag die Tageszunahme noch bei 22 Gramm. Der Brustfleischanteil stieg seitdem um zwanzig Prozent. Den in der Intensivbodenhaltung eingesetzten Rassen wird nur ein Lebensziel zugebilligt: Fressen und Wachsen. Und beides exzessiv. Eine vermutete Störung des „Fresszentrums“ im Hypothalamus ist für den ungezügelten Appetit verantwortlich.

Das Knochenwachstum kann mit den Muskelbergen nicht mithalten. Skelettverformungen und Entzündungen sind die Folge. Da ihnen Bewegung schwer fällt, liegen die Tiere gegen Ende der Mast drei Viertel des Tages. Sie vernachlässigen ihre Körperpflege und verzichten auch auf andere artgemäße Verhaltensweisen wie Picken und Scharren. Gefüttert werden sie mit Sojaschrot, Fischmehl, bis zur BSE-Krise wurde auch Tiermehl zugemixt. Ihr Fleisch ist wässrig und fad. Wir haben uns angewöhnt, es „zart“ zu nennen.

Das große Problem der Mastfabriken ist die wacklige Gesundheit der Belegschaft. Biolandaktivist Martin Bauer hat das in einer Untersuchung über „Probleme der intensiven Hähnchenmast“ eindrucksvoll beschrieben. Vor allem Darmparasiten (Kokzidien) verursachen hohen Krankheitsdruck, mit Ausfällen bis zu zehn Prozent. Da im Masthähnchenstall vom Einsetzen der Tiere bis zum Mastende in der Regel nicht nachgestreut (Stroh, Hobelspäne oder Sägemehl) wird, erhöht sich der Kotanteil in der Einstreu. Wird sie feucht, reicht die Kapazität der Klimaanlage an warmen Sommertagen oft nicht aus.

Dann geht der Schadgasgehalt der Stallluft nach oben. Atemwegserkrankungen, Hautprobleme, Sohlenballenverätzungen an den Füßen sind häufige Masthähnchenkrankheiten. Um die Malaise in einem Satz zusammenfassen: Ohne steten Arzneimitteleinsatz sind Masthähnchen in der modernen „Produktion“ nicht überlebensfähig.

Nur eine grundsätzliche Änderung des Mastverfahrens könnte die Quälerei beenden und durch eine artgerechtere Haltung gleichzeitig die Qualität des Fleischs verbessern: robuste und fürs Freiland geeignete Linien, energiereduzierte, aber getreide- und grünfutterreiche Kost, lange Mastzeiten sowie ein schonender Transport zur nahen Schlachtstätte. Die Biobetriebe haben einige dieser Forderungen übernommen, aber auch sie müssen häufig gegen Krankheiten kämpfen und haben nicht immer die idealen Zuchtlinien. Ausgewachsene Zwei- oder Dreikilohähne findet man auch in Bioprogrammen selten.

Wer je solch einen Hahn gegessen hat, wird ihn nie vergessen – kaum Grill- und Wasserverluste, saftiges, aromatisches Fleisch. Der Geschmack kommt vom Fett, das sich bei älteren Tieren zwischen den Muskelfasern einlagert und nicht nur unter der Haut. Zu einem so edlen Tier darf es eine Morchelsoße sein und ein großer Burgunder. Dann kann man zu Recht sagen: Der Hahn ist nicht umsonst gestorben.

ANDREA FINK-KESSLER, 46, ist Agraringenieurin. Sie leitet das Büro für Agrar- und Regionalentwicklung Kassel MANFRED KRIENER, 47, ist freier Journalist und neuer Chefredakteur des Slow Food -Magazins