Frische Frühlingswinde

Aufgeweckt: Wedekinds Kindertragödie „Frühlings Erwachen“ bekommt am Thalia neue Impulse  ■ Von Karin Liebe

Hi. Hi. Haste mal ne Zigarette? Klingt nach Annäherungsritualen von ganz normalen Jugendlichen. Die Jungs preschen einer nach dem anderen vor zu den Mädchen, linkisch, aber auch stolz über ihren Mut. Und die Mädchen kichern, lassen den einen kühl abblitzen, den anderen gnädig eine Zigarette nehmen.

Mit dieser Anmachszene beginnt Tilman Gerschs Inszenierung von Frühlings Erwachen im Thalia, aber so beginnt Frank Wedekinds Originaltext keinesfalls. Ein paar Minuten lang befürchtet man Schlimmes: dass nämlich Gersch das Pubertätsdrama aus dem späten 19. Jahrhundert, von Wedekind als Eine Kindertragödie untertitelt, mit der Brechstange ins frühe 21. Jahrhundert katapultiert.

Doch eine „Youngstertragödie“ bleibt uns erspart. Erstaunlich werktreu geht es weiter. Nur selten lässt Gersch in die altertümlich anmutende Sprache neudeutsche Ausdrücke mit einfließen, etwa wenn der frühreife Melchior Gabor (Andreas Pietschmann) seinen bes-ten Freund Moritz Stiefel (Hinnerk Schönemann) aufklären will und dabei frei heraus von Pimmel und Fotze spricht. Da zuckt mancher Zuschauer doch etwas zusammen.

Was Pubertät bedeutet, dieses Erwachen der Sexualität und des Chaos im Gefühlsleben, das unweigerliche Sich-Reiben an Eltern und Autoritäten, darum geht es in Frühlings Erwachen. Die Pubertät bleibt ein zeitloses Phänomen, auch wenn sie bei Wedekind in einer autoritären Gesellschaft lokalisiert ist, in der Sex tabubeladen war und über Aufklärung und Abtreibung geschwiegen wurde. Wenn die vierzehnjährige Wendla Bergmann (Susanne Wolff) ihre Mutter (Marina Wandruszka) danach fragt, ob der Storch das neue Baby der Schwester durch die Tür oder durch den Schornstein gebracht hat, klingt das wie völlig von gestern. Aber Wendla ist im Grunde gar nicht so dumm, sie will nur ihre Mutter provozieren. Die ist in Gerschs Inszenierung die Karikatur einer überängstlichen Frau. Sie speist ihre Tochter mit Lügen und Andeutungen ab und verspricht ihr, als sie plötzlich schwanger wird, einen Urlaub auf dem Ponyhof, nachdem alles wieder „in Ordnung“ gebracht ist. Mit den kindlich anmutenden Zöpfchen und all dem falschen Getue wirkt sie deutlich unreifer als ihre Tochter.

Ja, die Erwachsenen. Bei Wedekind schon als Karikatur angelegt, verkommen sie hier zur bloßen Lachnummer. Der Sportlehrer im prolligen Fußballeroutfit mit Trainingsanzug, Trillerpfeife und Minipli prüft Schüler Moritz, der dringend gute Noten braucht, um nicht von der Schule zu fliegen. Eine absurd-komische Extemporale: Moritz muss die mit todernster Miene vorgeführten Bewegungen und Geräusche eines kleinen Balls in Worte fassen, als würde er ein Gedicht deklamieren. Und natürlich versagt er. Statt pling heißt es plong oder so ähnlich. Selten wurde so schön auf den Punkt gebracht, wie willkürlich oft Schulweisheiten und sons-tige Wahrheiten definiert sind.

Diese Inszenierung strotzt vor Ideen. Bei der Liebesszene zwischen Wendla und Melchior hopsen die beiden zur Musik von Rod Stewarts The first cut is the deepest in Schlafsäcken aufeinander zu, die homoerotische Szene mit Hänschen und Ernst kulminiert im gemeinsamen Anziehen einer Feinstrumpfhose.

Gefällig könnte man das Ganze nennen, weil es nicht in die Tiefe lotet, sondern auf gelungene Effekte setzt. Dass die Kindertragödie aber nicht in einen Kinderzirkus abgleitet, dafür sorgt vor allem Hinnerk Schönemann in der Rolle des Selbstmörders Moritz Stiefel. Er strahlt eine Authentizität aus, die selbst in pathetischen Momenten, wenn sich sein Gesicht verzweifelt verzieht, nie verloren geht. Eine echte Entdeckung.

Himmelschreiend konventionell dagegen Melchiors Eltern: Angelika Thomas als Mutter die Hys-terie in Person, Peter Kurth als Vater die Borniertheit in Person. Eben keine wirklichen Personen. Vielleicht liegen genau da die Grenzen des Stücks: Die Probleme Pubertierender werden bleiben, die Reaktionen von Eltern und Lehrern aber haben sich geändert. Gott sei Dank.

Nächste Vorstellungen: 29. und 30. Mai, 20 Uhr, Thalia