Müllerstöchter vs. Menschenfresser

Wollen einfach nicht zusammenpassen: die Mythen der Initiation in den Märchen der Romantiker und das TV-Spektakel um verschwundene Kinder und entlaufene Mörder. Das Tanztheaterstück „Lockerungsstufe 4: Frank Schmökel“ in der Staatsbank

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Im Wald, da sind die Räuber: Das weiß schon, wer als Kind Grimms Märchen gelesen hat. Das Unterholz und die Höhle, das versteckte Haus im Wald und die uneinsehbare Wegbiegung: Dem begegnet wieder, wer die Fernsehberichte über die Suche nach verschwundenen Kindern und entlaufenen Mördern verfolgt. Doch verschlungen sind die Pfade, die von den Mythen der Initiation in den Märchen der Romantiker bis zum Thema Kindesmissbrauch führen.

In dem Stück „Lockerungsstufe 4: Frank Schmökel“ versuchen ein Regisseur (Jörg Lukas Matthaei), ein Tänzer (Ingo Reulecke) und eine Filmerin (Nicole Schuck) in das Dickicht einzudringen. Doch sie bleiben, ohne je eine Aussicht zu erreichen, im Gestrüpp hängen. Text, Film und Körpersprache: Allzu vage bleiben die Möglichkeiten der Verknüpfungen zwischen diesen drei Ebenen. Nicole Schuck zeigt uns Bilder von Gartenzäunen und Datschen, von Katzen und Hunden, von Spaziergängern, durch das Teleobjektiv observiert, von verdächtigen Müllanhäufungen zwischen Bäumen und von Totenkopf-Tatoos.

Schon die Stille, in der sie die Bilder in der großen Halle der Staatsbank projiziert, unter dem letzten Dämmerlicht des Tages, erzeugt eine bedrohliche und suggestive Stimmung. Dennoch sind die Ansichten beliebig. Jeder Ort könnte ein Tatort sein. Es wäre aber einmal einer kritischen Betrachtung wert, wie die Verhandlung des Kriminellen in den Bildberichten der Medien die Wildnis ausdehnt bis vor unsere Haustür.

Draußen ist wieder zu einem gefährlichen Ort geworden. Ganz im Inneren befangen und ohne Verbindungswege zum öffentlichen Umgang mit der Rolle des Triebtäters entspinnt sich der Tanz von Ingo Reulecke. In der Erforschung des Körperinneren folgt er einer Navigation, deren Karte niemand außer ihm besitzt. Nachgeben und fallen, sich fangen und zurückstoßen, taumeln und schwanken: Er ist ein Meister des Unvorhersehbaren und der Erfindung einer eigenen Geografie im Raum. Doch bringt man die tiefen Gründe, durch die er schürft, nicht mit den Wegen der Bild- und Textebene zusammen.

Am angenehmsten ist es, der Stimme der Schauspielerin Klara Höfels zu folgen. Ihre Erzählungen beginnen im Wald des Märchens, dort wo die „Müllerstochter“ den „Menschenfressern“ nur knapp entkommt. Sie streift über die Insel der „Nymphchen“, die Nabokov in seinem „Lolita“-Roman ausgemalt hat. Und kämpft sich durch einen Brief Schmökels, der in seiner Kälte und Perspektivlosigkeit erschreckt. Man ahnt, welches Feld diese Textcollage umreißen möchte: Da geht es auf der einen Seite um den literarischen Topos der Kindsbräute und die romantische Sehnsucht nach der Kindheit, die all das verkörpern kann, was der Mensch auf dem Weg der Vergesellschaftung an Wünschen von sich abgespalten hat. Dem steht auf der anderen Seite die Verkürzung des Zaubers der Adoleszenz auf die Sexualität gegenüber, die das Begehren nach dem Kind nur noch als Verbrechen und Skandal thematisiert. Zwischen diesen beiden Polen sind Bilder und Rollenmuster zu Bruch gegangen, deren Verlust den Denk- und Handlungsspielraum zwischen Kindern und Erwachsenen beschneidet und kanalisiert. Wie Verbrechen wie die von Frank Schmökel benutzt werden in einem gesellschaftlichen Rollback, wäre einer genaueren Beschreibung wert gewesen. Aber das Stück schafft es nicht, die losen Enden aus Literatur und Reality-TV zu verbinden oder die Kluft zwischen der kulturellen Funktion literarischer Metaphern und der medialen Ausschlachtung von Sexskandalen zu überbrücken. Es kippt dem Betrachter das Material vor die Füße und lässt ihn damit ratlos zurück.

26. 5. u. 1./2. 6., ab 21 Uhr, Staatsbank, Französische Straße 35, Mitte