Aschfahle Kadaver

Thüringer Fußball in der Bedeutungslosigkeit: Nach Carl Zeiss Jena steigt auch Rot-Weiß Erfurt in die Oberliga ab

BERLIN taz ■ Angenommen, Nordrhein-Westfalen, bekannt als Brutstätte hochklassiger Vereine, wäre im Fußball nur tiefste Provinz. Angenommen, Borussia Dortmund spielte auf Bolzplätzen vor einer Hand voll Zuschauern mehr schlecht als recht und Schalke 04 feierte nicht den DFB-Pokal, sondern träte Reisen aufs Land an nach Freialdenhoven oder Sprockhövel. In Thüringen ist genau dies der Fall. Freilich wird wegen des Abstiegs des FC Carl Zeiss Jena und des FC Rot-Weiß Erfurt in die Oberliga keiner hysterisch. Der Ballvortrieb in der 4. Liga kam nicht unerwartet. Zwischen den Flüsschen Gera und Saale haben sich die Fußballfreunde in ihr Schicksal gefügt. Das heißt: Sie hoffen auf bessere Zeiten.

Jena war schon vor Wochen abgestiegen. Noch ein paarmal zuckte der Verein in der Regionalliga Süd wie Geflügel nach der Enthauptung. Aber jeder wusste: Der Kopf ist ab. Das Blut fließt. Zurück bleibt ein aschfahler Kadaver. Da hilft nur noch Wiederbelebung. Ein Reanimateur meldete sich, so glaubte man unterhalb der Jenaer Kernberge, schon einmal in Person von Michael Kölmel. Der Chef der Kinowelt AG nahm Carl Zeiss in seine Liste förderungswürdiger Ostvereine auf. Er kaufte die Vermarktungsrechte. Gab ein Darlehen, das manch einer für ein Lottogeschenk hielt.

Tatsächlich ging es kurzzeitig aufwärts, aber Kölmels Breitbandantibiotikum stößt auf Resistenzen. Was bei Union funktioniert, auch in Magdeburg, muss nicht bei Sachsen Leipzig oder Dynamo Dresden anschlagen. Längst bündelt Kölmel, laut Süddeutscher Zeitung der „Nosferatu des deutschen Fußballs“, die Kräfte. Jena gehört bei der in München ansässigen Sportwelt, einer Tochter der Kinowelt, zu den Versagern. Der Geldfluss versiegt.

Auch Rot-Weiß Erfurt wollte Penunzen aus Westlanden von jenem Mann haben, der gar nicht weiß, ob er am Ende der Gewinner oder der Verlierer seiner groß angelegten Spekulation ist. Unter einem Präsidenten, der hauptberuflich Zargen und Fenster zimmert, schrieb der Erfurter Club einstmals einen Bittbrief an Kölmel. Man möge doch an die Rot-Weißen denken. Doch Kölmel dachte um die Ecke – an Erfurt vorbei. Immerhin beendeten die Mannen aus der Landeshauptstadt die Spielzeit noch vor dem Erzfeind aus Jena. Geholfen hat es ihnen nicht. Die letzten beiden entscheidenden Spiele gegen die Amateure von Bayern München und den VfR Mannheim gingen verloren: Abstieg. Also wird es auch in Zukunft das Thüringenderby geben – dann in der Oberliga.

Erfurt und Jena gehörten zum Stammpersonal der DDR-Oberliga. Sie galten als weniger stasiverseucht als der BFC Dynamo oder ASK Vorwärts Frankfurt/Oder. Erfurt brachte es meist nur zu Mittelfeldrängen. Jena dagegen schrieb ein bisschen an der Fußballgeschichte mit. Die in blauweißgelben Leibchen spielenden Jenaer halten sich in der ewigen Tabelle der DDR-Oberliga-Teams vorm BFC – nach gewonnenen Punkten. Der dreimalige DDR-Meister stand 1981 sogar im Finale des Europapokals gegen Dinamo Tbilissi. Und verlor. O-Ton DDR-Radio damals: „Da kurvt Darasselija durch den Jenaer 16-Meter-Raum, um Schilling herum, um Kurbjuweit, um Himmels willen, wo ist Grapenthin?“ 1:2. Die Zeit erkannte die beschwingte Leidensfähigkeit des Jenaer Fans und schrieb: „Was dich nicht tröstet, macht dich stark.“ So lautet der Sinnspruch immer noch.

Jena feuerte bereits Trainer Slavko Petrovic. Erfurt will, so bekundet man im Steigerwaldstadion, auf jeden Fall mit dem Fußballlehrer Hans Ulrich Thomale weitermachen. Die Fans denken derweil entweder an die gute alte Zeit. Oder man trauert Jörg Böhme und Thomas Linke nach, den verlorenen Söhnen. Böhme, der auf Schalke die Saison seines Lebens spielte, ging in Jena zur Sportschule und kickte im Amateurteam von Carl Zeiss. Der Erfurter Linke drischt bekanntlich in Bayern auf die Bälle ein. Beide konnten sich vor der heimatlichen Viertklassigkeit retten.

Jena wirbt auf seiner Internetseite immer noch mit dem Slogan: „Die Nummer 1 in Thüringen.“ National, dekliniert man alle Ligen durch, rangieren sie jedoch nur auf Platz 71. Erfurt liegt knapp davor. In der kommenden Saison geht’s nach Hoyerswerda und zu den Amateuren von Energie Cottbus. Der thüringer Fußball ist angekommen: irgendwo im Nirgendwo. MARKUS VÖLKER