Liegt Moskau in Europa?

In Russland verliert die europäische Option an Boden. Das freut US-Amerikaner, die meinen, dass die Exsupermacht nicht Teil eines vereinten Europas werden sollte

Ein Beitritt derbaltischen Republikenzur Nato könnte die „russischen Europäer“ ganz zugrunde richten

In den USA der Clinton-Jahre war das Wall Street Journal eine politisch marginale Zeitung. Erst seit George W. Bush Präsident der Vereinigten Staaten wurde, ist dieses Organ eines imperialistischen Nationalismus zum Sprachrohr der US-Regierung avanciert. Es kann also nicht verwundern, dass das Journal am 14. Mai in seinem Leitartikel verkündete, in der slowakischen Hauptstadt Bratislava habe sich am Vortag etwas ereignet, was die weltpolitische Lage verändern würde: Russland werde bald aus Europa ausgeschlossen.

Tatsächlich hatten die Staats- und Regierungschefs von neun osteuropäischen Ländern in Bratislava gefordert, die baltischen Staaten schon im Jahr 2002 in die Nato aufzunehmen. Noch wichtiger ist jedoch – vom Standpunkt des Journal aus gesehen –, dass endlich ein achtbarer Anwalt für diese Forderung gefunden wurde. Zudem mit unbestreitbarer Autorität: der womöglich weltberühmteste Liberale, der „tapferen Anführer der samtenen Revolution“, der „mit der Wortgewandtheit des Dramaturgen und der moralischen Autorität des ehemaligen Dissidenten die Argumente derer zerstört hat, die dem Eintritt der osteuropäischen Beitrittskandidaten in die Nato entgegentreten“.

Es ist der tschechische Präsident Václav Havel. Er habe in Bratislava, so das Wall Street Journal, als Hauptfrage gestellt: „Warum sorgt man sich im Westen so sehr um die Sensibilitäten eines Volkes, das Millionen geknechtet hat?“ Und das Journal fügt hinzu: Selbst jene, „die mit Russland sympathisieren, haben eingestanden, dass sich, sobald sich Havels Argumente auf dem Kontinent verbreiten werden, die Stimmung in Berlin, in Paris und in anderen Hauptstädten ändern wird“. Mit anderen Worten, Europa wird der Position des Wall Street Journal folgen.

Eines muss man Havel zugestehen – seine Rede war wirklich mutig. „Im Gegensatz zu vielen westlichen Politikern, die – wie sie meinen, im Interesse von Frieden und Freundschaft – vor Russland zu Kreuze kriechen, denke ich, es ist viel nützlicher für die Freundschaft mit Russland, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, wie unangenehm sie auch sein mag.“ Diese Wahrheit soll darin bestehen, dass Russland als „euroasiatische Großmacht“ in Europa nichts zu suchen hat.

Hier musste der Redner einen geografischen Drahtseilakt aufführen: Der Begriff „Europa“ wurde in „Westen“ umgewandelt. Genau diese Austauschaktion erlaubt Havel zu behaupten, dass, obwohl „ein Teil Russlands in Europa liegt und sein geistiger Reichtum einen großen Einfluss auf das übrige Europa gehabt hat [. . .], dies keineswegs bedeutet, dass es in die Region eingeschlossen werden sollte, die wir den Westen nennen“.

Bei einer solchen Einteilung gehören sowohl Bulgarien wie Rumänien, die selbst das Wall Street Journal zu den osteuropäischen Ländern zählt, zum „Westen“. Ganz zu schweigen vom Baltikum, das östlich von Kaliningrad liegt. All diese Länder möchte Havel in die „Region“ einschließen, „die wir den Westen nennen“. Selbst Japan, das ja nun wirklich östlich sowohl von Europa als auch von Russland liegt, wird darin berücksichtigt. Nur die russische Föderation fällt aus irgendeinem Grund heraus. Eine seltsame, ungewöhnliche Geografie.

Aber das Wall Street Journal hätte Havels Rede wohl kaum als einen Kurswechsel in der Weltpolitik betrachtet, wenn darin einfach nur eine ungewöhnliche Geografie vorgeschlagen würde. Für das Blatt vor allem interessant war Havels Hauptargument: Die baltischen Länder würden sich nach Europa sehnen, während Russland nicht wüsste, ob es dahin will oder nicht. Es geht, so Havel, „um das Problem der russischen Identität“. Darum also, dass Russland noch nicht die Frage beantwortet hat, ob es nun zu Europa oder zu Eurasien gehört.

Hier hat Havel, im Unterschied zu westlichen Politikern, tatsächlich einen wunden Punkt Russlands aufgespürt. So fand kürzlich der Gründungskongress der Bewegung „Eurasien“ statt, über dem stolz ein Transparent mit einem Zitat von Wladimir Putin wehte: „Russland ist ein euroasiatisches Land.“ Und in Moskau ist eine „neoeurasische“ Denkschule entstanden – geführt von so angesehenen Leuten wie Professor Iljin, dem Leiter der Fakultät für Philosophie der Bauman-Universität und dem Leiter der Politologischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität, Professor Panarin. Viele Moskauer Liberale wiederum versuchen, den Tiger zu reiten, indem sie ernsthaft über die „Eurasische Identität“ Russlands diskutieren – ohne die Gefahr dieses Spielchens zu sehen, das den Diskussionen über einen deutschen „Sonderweg“ in den 20er-Jahren unter Weimarer Politikern nicht unähnlich ist.

Inzwischen halten nicht mehr 17, sondern 56 Prozent der Russen die Nato für einen „aggressiven Block“

Letztendlich hat Havel Recht mit seiner Analyse: Russland ist sich über seine eigene Identität nicht im Klaren. Nur leider zieht der Tscheche daraus nicht die Konsequenz, die man von einem Freund und einem liberalen Intellektuellen erwarten könnte. So kommt Havel nicht zu dem Schluss, dass die Zeit gekommen ist, Europas intellektuelle Kapazitäten mit denen in Russland zu verbünden, die den gefährlichen Mythos des Eurasismus zu zerstören suchen. Stattdessen will er Russland isolieren.

Spätestens hier müsste klar sein, warum die imperialistischen Nationalisten vom Wall Street Journal in diesem kristallklaren Liberalen eine verwandte Seele entdeckt haben. Denn zu Hause in den Vereinigten Staaten würden ihnen die verteufelten Liberalen von der New York Times wohl kaum erlauben, so leichtfertig mit dem Problem der russischen Identitätssuche umzugehen. Die hätten sicherlich ein paar unangenehme Fragen. Zum Beispiel die, was der Ausgang der Identitätssuche in einer nuklearen Supermacht für den Rest dieser Welt so alles bedeuten könnte.

Die USA sind bereit, 100 Milliarden Dollar auszugeben, um sich vor dem destruktiven Potenzial eines Nordkorea oder eines Irak zu schützen. Aber reichen die Dollars der Vereinigten Staaten aus, wenn, Gott behüte, das antiwestliche Eurasiertum in Russland tatsächlich siegen sollte? Kurzum, all das, was sich das Wall Street Journal zu Hause nicht zu sagen traut, hat Havel in Bratislava vorgebracht. Das tschechische Staatsoberhaupt pfeift auf das politische Vermächtnis des ehemaligen US-Präsidenten. „Wir müssen alles dafür tun, um Russland dazu zu bringen, tatsächlich zu einem rechtmäßigen Teil Europas zu werden“, hatte Bill Clinton postuliert. Und: „Dies bedeutet, dass ihm keine Türen verschlossen bleiben sollten – weder die der Nato noch die der EU.“

Havel übersieht, dass sich in Russland ein epochales Drama abspielt. Die russischen Eurasier sind dabei, offen und lautstark die russischen Europäer zu entmachten. Und dieser Kampf spielt sich vor den Augen des liberalen Europa ab. Es fragt sich: Was soll Europa hier tun? Alle über einen Kamm scheren, wie Havel es tut, und damit dem kriegerischen Eurasiertum in die Hände spielen und die russischen Verbündeten aufgeben? Oder diese unterstützen?

Wie dramatisch sich die Lage zuspitzt, zeigen die letzten Umfrageergebnisse: 1997 hielten 18 Prozent der Russen die Nato für einen „aggressiven Block“. Inzwischen sind es 56 Prozent, also die Mehrheit. Noch viel erschreckender ist, dass zwei Drittel von ihnen (68 Prozent) hochschulgebildete Menschen sind – jene also, die doch eigentlich die Europäisierung Russlands mittragen sollten. Das heutige Kräfteverhältnis stärkt also eindeutig die „Eurasier“. Ein Beitritt der baltischen Republiken zur Nato könnte die „russischen Europäer“ ganz zugrunde richten.

Auch Moskauer Liberale diskutieren mittlerweile ernsthaft über die „eurasische Identität“ Russlands

Es ist daher unklug, die Balten in die Nato aufzunehmen, ohne das Bündnis gleichzeitig auch für Russland zu öffnen – was das Kräfteverhältnis sofort zugunsten der russischen Proeuropäer verändern würde. Mit einem Schlag würden die Eurasier ins politische Abseits getrieben. Havels nationales Identitätsproblem wäre gelöst.

Man sollte nicht vergessen, dass Europa heute in Russland ein ebensolches Ansehen genießt wie Amerika 1990/91. Diese vorgestrige Popularität wurde gewinn- und kopflos verspielt. Europa ist der letzte Anker, der Russland noch am Westen hält. Eine dritte Chance werden die russischen Europäer nicht mehr haben. Havels Vorschlag ist ein sicherer Weg, das europäische Ansehen ebenso sinnlos zu vergeuden wie das amerikanische. Daher sollte Bill Clintons Vermächtnis erfüllt und Russland der Weg in die EU und die Nato geöffnet werden.

ALEXANDER YANOV