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: NBA: Allen Iverson lässt Philadelphia hoffen

Die Rückkehr von Graf Dracula

And the three men I admire most

Das Einzige, wovor die Los Angeles Lakers bezüglich des am 6. Juni beginnenden Meisterschaftsfinales noch Angst haben, dürfte ein kompaktes Energiebündel aus Philadelphia sein: Allen Iverson, mit 1,83 m der kleinste Basketballer, der je zum besten Spieler einer NBA-Saison gewählt wurde. Vorläufig dürfen Kobe Bryant und Shaquille O’Neal noch hoffen, dass ihnen die Konfrontation mit dem zähen 25-Jährigen erspart bleibt. In der Serie zwischen den Philadelphia 76ers und den Milwaukee Bucks steht es 2:2 – und Iverson geht es schlecht, wie meist. Der Mann, der ob seiner draufgängerischen Spielweise laut Sports Illustrated normalerweise „mehr Blessuren aufweist als eine ganze Folge von Emergency Room“, plagt sich seit dem Viertelfinale gegen die Toronto Raptors mit einer schmerzhaften Steißbeinverletzung. „Als habe jemand mit einem Hammer auf den Knochen gehauen“, erläutert der Teamarzt der 76ers.

Im zweiten – verlorenen – Match gegen die Bucks stolperte Iverson, sonst schnell wie ein Lichtstrahl, nur mit halber Kraft über das Spielfeld, die dritte – verlorene – Partie sah er in seinem Hotelzimmer im Fernsehen. Dann hatte er genug und stand am Montag bei Spiel vier in Milwaukee wieder im Team. Das Match zeigte, was ohnehin jeder weiß: Iverson ist das, was Larry Bird einst für die Boston Celtics, Magic Johnson für die Lakers und Michael Jordan für die Chicago Bulls war, nämlich der Faktor, der ein gutes Team in ein potenzielles Meisterschaftsteam transformiert. Die 76ers gewannen mit 89:83, 11 der letzten 13 Punkte holte Allen Iverson, und dies auf eine Art und Weise, die sogar den Grafen Dracula entzückt hätte. Zwei Minuten vor Schluss hatte der gepeinigte Sixers-Star den Ellenbogen von Ray Allen so heftig ins Gesicht bekommen, dass sich ein Vorderzahn lockerte und er heftig blutete. Aus Angst, dass ihn die Schiedsrichter aus dem Spiel nehmen würden, hielt er den Mund fest geschlossen. „Wenn er voll war, habe ich das Blut hinuntergeschluckt“, erzählte er anschließend.

„Ich kann meinen Hut gar nicht tief genug vor ihm ziehen“, sagte Sixers-Coach Larry Brown über Iverson, der bis auf 16 Sekunden das gesamte Match durch spielte. 28 Punkte, 8 Assists und 5 Rebounds standen am Ende für ihn zu Buche und sein Fazit fiel entsprechend positiv aus. „Ich wusste, dass ich mich anschließend mies fühlen würde, aber mein Hez fühlt sich gut, und das ist wichtig.“

Das fünfte Match der Best-of-seven-Serie findet heute in Philadelphia statt und mit Iverson sowie dem Schwung aus Spiel vier spricht alles für das Heimteam. Die Bucks wurden vom eigenen Publikum mit Pfiffen verabschiedet, klein beigeben wollen sie aber noch nicht. „Alles, was dieses Spiel gezeigt hat“, sagt Coach George Karl, „ist, dass beide Teams ziemlich gleichwertig sind.“

Die Hoffnungen der Basketballfans ruhen allerdings eher auf den Sixers und pikanterweise auf Allen Iverson. Der ist wegen seiner Tattoos, seiner Maisfeldfrisur und seiner auch auf einer im Juni erscheinenden HipHop-CD verewigten Vulgärsprache für das weiße Sportpublikum nach wie vor ein rotes Tuch. Als er auf dem Cover der Sports Illustrated prangte, hagelte es wütende Leserbriefe, und es half seiner Popularität auch nicht, als er genau die Schimpfworte, die er auf Bitten von NBA-Commissioner David Stern aus seinen Songtexten getilgt hatte, einigen Fans der Indiana Pacers entgegenschrie, die ihn beleidigt hatten. Alles zweitrangig im Moment, denn jeder weiß: Wenn jemand im Finale die übermächtig scheinenden Los Angeles Lakers ärgern kann, dann ist es „The Answer“, wie Allen Iverson seit langem genannt wird. Und dies, wie sich immer mehr zeigt, völlig zu Recht. MATTI LIESKE