Die Einäugigkeit der Mediziner

Familienministerin Christine Bergmann (SPD) stellte gestern den ersten Frauengesundheitsbericht vor. Notwendig sei eine Neuorientierung des Gesundheitswesens. Die Medizin nimmt frauenspezifische Krankheiten zu wenig in den Blick

von MATTHIAS URBACH

Wer das Wort „Herzinfarkt“ hört, denkt an gestresste Manager in Schlips und Kragen, die aufgeregt Befehle ins Telefon brüllen. Es sind aber vor allem Frauen, die daran sterben: Mehr als die Hälfte von ihnen finden durch Herz-Kreislauf-Krankheiten den Tod, bei den Männern sind es nur 44 Prozent.

Dies ist eines der augenfälligsten Beispiele dafür, dass die Medizin einen männerzentrierten Blick hat. Daher gab das Familienministerium 1996 eine Studie zur Frauengesundheit in Auftrag. Gestern konnte Ministerin Christine Bergmann (SPD) den 700 Seiten starken Bericht vorstellen. „Wir brauchen eine Neuorientierung im Gesundheitswesen, die diesen Unterschieden Rechnung trägt“, so ihr Fazit.

Die Einäugigkeit der Mediziner hat zuweilen tödliche Konsequenzen. So wird der Herzinfarkt bei Frauen oft übersehen, weil sie andere Symptome als Männer zeigen – nämlich Übelkeit und Erbrechen. Mit 100 Millionen Mark will Bergmann daher vier „Kompetenznetze“ fördern, die das Wissen über den weiblichen Herzinfarkt verbessern sollen. Dem Bericht zufolge, an dem fünf Institute – darunter die Berliner Universitätsklinik Charité – mitwirkten, leben Frauen gesundheitsbewusster und werden mit durchschnittlich 80 Jahren rund sechseinhalb Jahre älter als Männer. Während junge Männer vor allem an Herzinfarkt, Lungenkrebs und Autounfällen sterben, kommen Frauen in jungen Jahren vor allem durch Krebs um (44 Prozent) – allen voran Brustkrebs. Dennoch gebe es bislang nur ungenügende Erkenntnisse über dessen Ursachen, kritisierte Bergmann (siehe Kasten).

Frauen rauchen und trinken weniger als Männer, dafür nehmen sie häufiger Medikamente. Dabei werden viele abhängig von Beruhigungsmitteln, Antidepressiva, Neuroleptika und Schmerzmitteln. Dies fällt weniger auf als Alkoholsucht, kann aber die Persönlichkeit durchaus verändern. Die Ärzteschaft zeige wenig Aufmerksamkeit für die von ihr mit verursachte Abhängigkeit, so der Bericht.

Essstörungen betreffen ebenfalls vor allem Frauen: 95 Prozent aller Bulimie- oder Magersuchtkranken sind weiblich. Beinahe jede fünfte Frau zwischen 16 und 60 ist körperlicher, teilweise auch sexueller Gewalt in der Familie ausgesetzt. Diese Erfahrungen haben laut Bericht schwere Folgen für die Gesundheit. Die Symptome würden aber von Ärzten kaum wahrgenommen.

Pflege von Angehörigen – in drei Viertel der Fälle immer noch Frauensache – mache die Betreuenden ebenfalls oft krank. „Wir wissen noch immer zu wenig über die gesundheitlichen Probleme von Frauen“, sagte Bergmann. Der Bericht sei daher nur der „Einstieg in eine kontinuierliche Berichterstattung“.

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