Puzzle in Abgeschiedenheit

Ein Film und ein Buch: „Citizen Kane“  ■ Von Christiane Müller-Lobeck

Hinterher weiß man immer mehr. Mit Citizen Kane hat Orson Welles 1941 dieser Binsenweisheit, die vor allem eine über Geschichte ist, etwas von ihrer bequemen Zurückgelehntheit genommen. Welles wollte den aufmerksamen, den vorausschauenden Zuschauer, einen, der bereit ist, das Gesehene zu enträtseln. Der bereit ist, den Fortgang der Geschehnisse nicht nur mit den einzelnen Figuren des Films mitzuerleben oder aus relativer historischer Nähe zu erinnern, sondern die unterschiedlichen Perspektiven zu einer Summe zusammenzufügen. Er sollte bemerken, dass er selbst sich mitten im Getümmel befindet, auch wenn die Filmhandlung abgeschlossen erscheint.

Wenige Filme erzeugen an ihrem Ende derart das Bedürfnis, sie noch einmal zu sehen. Wenn sich in einer der letzten Einstellungen das Rätsel löst, was der schwerreiche Medienzar Charles Foster Kane auf dem Sterbebett mit seinem letzten Wort „Rosebud“ gemeint haben könnte, ist wenig mehr klar als das, was mit dem Wort bezeichnet wird. Seine Bedeutung – daher der Wunsch nach einem Nochmal – hat der Film in unzählige Einzelteile verwandelt, die der Zuschauer nun aus seiner Erinnerung zusammensetzten muss, wie Kanes zweite Frau in der Abgeschiedenheit des Schlosses Xanadu die riesigen Puzzles.

Unter den Techniken, die Orson Welles und sein Kameramann Greg Toland verwendeten, um nicht nur den gesamten Film, sondern jedes seiner Bilder in ein Rätsel zu verwandeln, nimmt das Stilmittel der Tiefenschärfe einen besonderen Rang ein. Anders als durch die klassische Montage und die Schnitttechnik des Kommerzkinos, vor allem die von Schuss und Gegenschuss, entsteht in Citizen Kane ein Geflecht von vorwärts und rückwärts gerichteten Verweisen.

Der dramaturgische Fortgang ist derart für die Zuschauer häufig in ein und derselben Einstellung zu verfolgen. Und zugleich können immer mehrere Dinge die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Damit ist beim Zuschauen nicht nur ein ungewöhnliches Maß an Blickautonomie gegeben, hier liegt auch – technisch gesehen – die Quelle des Bedürfnisses, alles noch einmal zu sehen und dabei auf anderes zu achten. Eine Qualität des Films übrigens, die kaum auf einem Fernsehbildschirm zu entdecken ist.

Das Drehbuchautorengespann Orson Welles und Hermann Mankiewicz hatte sich, als es 1940, nicht lange nach dem Überfall der Deutschen auf Polen, die Figur des Kane schuf, den Medienmogul William Randolph Hearst zur Vorlage genommen. Dieser war, daran erinnert Laura Mulvey in ihrem Buch Citizen Kane, das der Europa Verlag gerade auf Deutsch herausgebracht hat, nicht nur ein erklärter Feind des New Deal, sondern auch Stellvertreter einer isolationistischen Politik, die den von Roosevelt verfochtenen Kriegseintritt der USA zu dieser Zeit zu gefährden drohte – mit der ganzen Macht der von ihm geleiteten Sensationspresse.

Zu Beginn des Films ist in einer kurzen Einstellung der Wochenschau anlässlich von Kanes Tod dieser mit Hitler auf einem Balkon zu sehen. Kurz darauf verspricht der von seiner Europareise Zurückgekehrte einem Reporter: „Ich habe mit allen führenden Politikern gesprochen, in Deutschland, Italien, Frankreich. Sie sind zu intelligent, um etwas anzuzetteln, was das Ende der Zivilisation bedeuten würde. Ich gebe ihnen mein Wort, es wird keinen Krieg in Europa geben.“

Doch Welles wollte nicht nur e-xemplarisch an seinem Kane das Scheitern des Isolationismus vorwegnehmen, er suchte auch nach den individuellen Gründen für das Handeln seiner Hauptfigur. In Citizen Kane lässt sich vielleicht ein zu starkes Plädoyer für psychoanalytische Erklärungen sehen. Laura Mulvey gibt aber in ihrem Buch auch zu bedenken, Welles könnte mit dem Porträt eines durch den frühen Verlust der Mutter beschädigten Charakters auf ein massenpsychologisches Phänomen anspielen: Womöglich suchte Welles nach einer Erklärung für die in der US-amerikanischen Bevölkerung weit verbreitete Haltung, man habe mit den Geschehnissen in Europa nichts zu tun. Die isolationistische Haltung ergäbe sich demnach aus der Verdrängung der eigenen Vorgeschichte, und die lag für die meisten in Europa. Indem Welles an die Vorgeschichte des vermessenen Machtstrebens Kanes erinnerte, ermöglichte er auch Ausgrabungen an der Gesellschaft des Schmelztiegels. Und die befand sich zu dieser Zeit mitten im Getümmel.

 Citizen Kane: heute + Fr (mit Buchvorstellung), je 17 Uhr, Abaton; Sa, 2.6. + So, 3.6., 18.15, 3001; Di, 5.6., 17 Uhr, Zeise

Laura Mulvey: Citizen Kane. Der Filmklassiker von Orson Welles, Europa Verlag Hamburg/Wien 2001, 112 S., 18,50 Mark