Das Drama im Alltäglichen

■ Neu im Kino: „You Can Count On Me“ von Kenneth Lonergan zeichnet ein großartiges Bild aus der Kleinstadt

Zählen kann man ganz gewiss auf Sammy Prescott: eine alleinerziehende berufstätige Mutter, die sich redlich bemüht, ihr Leben, das ihres Bruders und das ihres Sohnes auf die Reihe zu kriegen. Warum dies ein Problem ist, erfahren wir gleich in der ersten Einstellung: Schon als Kinder verloren Sammy und ihr Bruder Terry bei einem Verkehrsunfall ihre Eltern. Beide bewältigten dieses Trauma mit völlig entgegengesetzten Strategien. Sammy wurde ordentlich, fast überangepasst, fast ein Kontrollfreak. Terry dagegen ist chaotisch, fast asozial, fast selbstzerstörerisch.

Sammys Sohn Rudy steht zwischen den beiden: Er liebt seine Mutter, fühlt sich aber auch zu Terry hingezogen, weil er sich nach dem abwesenden Vater sehnt und sein Onkel manchmal wie ein idealer Papi für ihn ist. Aber dann enttäuscht Terry ihn wieder. Und auch bei Sammy droht alles aus dem Ruder zu laufen, weil die Bankangestellte eine Affäre mit ihrem Chef beginnt.

Genau: Alltägliche Probleme! Warum soll man dafür ins Kino gehen? Der Drehbuchautor und Regisseur Kenneth Lonergan zeigt ein Stück ganz normalen Lebens in der Kleinstadt Scottsville, New York. Kleine Geschichten laufen ineinander, es gibt keine Erzählkonvention, die die Filmfiguren in bekannte Bahnen drängt: Sie leben, machen Fehler, lernen daraus oder auch nicht. Am Schluss ist nichts wirklich gelöst, niemand happy oder tot.

Eine dramaturgische Entwicklung gibt es nur, weil Terry nach langer Abwesenheit wieder in seine Heimatstadt kommt, und eine Zeit lang bei seiner Schwester wohnt. Er wirkt wie ein Katalysator im statischen Kleinstadtleben, und mit ihm verlässt der Film schließlich auch ganz unspektakulär wieder das kleine Örtchen. Doch man vermisst Sammy, Terry und Rudy schon, wenn man aus dem Kino geht.

Lonergan ist hier etwas sehr Seltenes gelungen: Er wirft einen zärtlichen, wahrhaften Blick auf das normale Leben (das übrigens in Scottsville nicht grundsätzlich anders abläuft als in Syke), der so profund ist, dass plötzlich nichts mehr banal erscheint. Die kleinen Nervereien am Arbeitsplatz von Sammy, die Art, wie sich Rudy zuerst misstrauisch auf Terry zubewegt, oder wie dieser beleidigt ist, weil seine Schwester einen Klempner kommen lässt, nachdem er mit seinen Reparaturen das Haus unter Wasser zu setzen droht – all das sieht man erst mit Interesse, dann mit Sympathie und dann mit immer mehr Begeisterung. Denn Lonergan zeigt klug und voller Mitgefühl, mit welchen Beschränkungen, Wünschen und Ängsten sich Menschen herumschlagen müssen.

„You Can Count On Me“ ist nie sentimental, doch oft berührend und manchmal auch überraschend komisch. Dies aber nicht durch forcierte Gags, sondern genau beobachtete Details, wie etwa den verblüfften Blick eines (vom Regisseur gespielten) Priesters, der sich von der gerade fremdgegangenen Sammy sagen lassen muss, die Kirche solle gefälligst den Ehebruch schlimmer anprangern, damit sie sich wenigstens ordentlich schuldig fühlen kann.

Wilfried Hippen

täglich um 19 Uhr im Cinema