Das Architektur-Quartett

Der Chef der Bundesarchitektenkammer lädt zu einem öffentlichen Debattiersalon über neue Gebäude in der Stadt. Knapp tausend Zuhörer wollten im ehemaligen Staatsratsgebäude wissen, was Bauwerkskritiker aus den Feuilletons zu sagen haben

von UWE RADA

Was ist der Unterschied zwischen einem Buch und einem Bauwerk? Ein Buch kann man wieder weglegen, mit einem Bauwerk dagegen, ist es erst einmal realisiert, muss man leben. Vielleicht hat man deshalb die Architektur einmal als die wirkungsmächtigste Gattung aller Künste bezeichnet. Um dieser Bedeutung des Gebauten mehr Ausdruck zu verleihen, hat Peter Conradi, der Präsident der Bundesarchitektenkammer, ein neues Format vor Augen. Raus aus den elitären Zirkeln der Feuilletons soll die Architekturkritik und rein ins Fernsehen. Warum soll schließlich die Erotik von Haruki Murakami von Marcel Reich-Ranicki gelobt, die Symbolik von Hans Kollhoff aber nicht verrissen werden dürfen.

„Architektur-Quartett“ heißt darum das neue Format von Conradi, und am Dienstagabend wurde die Auftaktveranstaltung gegeben. Drei Bauwerke standen zur Debatte – Gebäude, wie sie verschiedener nicht sein können: Claude Vasconis Umbau des alten Borsig-Geländes in Tegel zu Shopping-Mall und Entertainment-Center, Hans Kollhoffs Leibnizkolonnaden in Charlottenburg und das Bundeskanzleramt von Axel Schultes. Zum Streit aufgefordert waren drei Kritiker: Amber Sayah von der Stuttgarter Zeitung, Hanno Rauterberg von der Zeit und der freie Kritiker Wolfgang Kil. Komplettiert wurde die Runde schließlich von einem „interessierten Laien“, dem CDU-Bundestagsabgeordneten Norbert Lammert.

Schon bei den umgebauten Borsighallen wurde deutlich, dass der eigentliche Charme einer öffentlich ausgetragenen Architekturkritik weniger in einem Schaukampf der Kritikerurteile als vielmehr in ihren Begründungen liegt. Es macht eben einen Unterschied, ob man für ein imaginäres Publikum schreibt oder, wie am Dienstagabend, vor nahezu tausend Zuhörern streitet, die in den Kinosaal des ehemaligen Staatsratsgebäudes gekommen waren. Und diese Zuschauer, denen die Gebäude zuvor in Wort und Bild vorgestellt wurden, gleichen ihre eigenen Eindrucke unweigerlich mit dem Blick des Kritikers ab, nicken, schütteln den Kopf, lachen. Dass Architektur und die Auseinandersetzung darum großes Publikumsinteresse hervorrufen – Berlin hat es wieder bewiesen.

Da spielte es fast schon keine Rolle, dass Amber Sayah den Kontrast zwischen der alten Funktion der Borsighallen als Fabrikhalle für den Eisenbahnbau und der neuen Nutzung als Konsumtempel als störend empfand. „Dann schon lieber ganz einen Neubau“, forderte sie, worauf Hanno Rauterberg entgegnete: „Was hat man damit gewonnen? Nichts!“ Wolfgang Kil schließlich sorgte sich gar darum, „dass die hervorragende Architektur Vasconis“ nolens volens für einen neuen Aufschwung der Einkaufszentren sorge.

Doch die Borsighallen waren ohnehin nur eine Sprechübung – was dann folgte: ein vierstimmiges vernichtendes Urteil über die Leibnizkolonnaden in Charlottenburg. „Dort, wo ich herkomme“, sagte die Iranerin Amber Sayah, „macht man ja viel Quatsch. Aber so einen Quatsch macht man da nicht.“ Sayah fühlte sich angesichts der kalten, strengen Formen der Kollhoff’schen Fassaden nicht nur an die stalinistische Architektur erinnert, sondern auch an die der Nazis. So weit wollte der CDU-Mann Lammert gar nicht gehen. „Mir fällt da gar nichts mehr ein“, sagte er, „außer deprimierend und trostlos.“ Seit er die Kolonnaden gesehen habe, hege er noch im Nachhinein eine Sympathie für die Anwohner, die jahrelang gegen das Bauvorhaben protestiert haben. Wolfgang Kil schließlich fand, dass sich der Kollhoff-Bau all dessen bedient, was als soziale Schranke begriffen werden kann. „Hier soll jedem klar gemacht werden, dass das hier für bessere Kreise ist. Die Leibnizkolonnaden sind das Vorderhaus, der Rest der Stadt ist Hinterhof.“

Was die Kritiker aber besonders aufbrachte, war der Kontrast zwischen dem Anspruch Kollhoffs auf möglichst qualitätsvolles Bauen und der tatsächlichen Umsetzung. Sayah berichtete von einer Schublade in der in den Kolonnaden eingezogenen Kita, die zwar sehr schön, aber wenig funktional sei. „Da müssen zwei Erzieherinnen ran, um diese Schublade überhaupt aufzukriegen.“ Einzig Hanno Rauterberg schlug nachdenkliche Töne an und erinnerte daran, dass sich beim Hotel Adlon die Kritiker auch einig gewesen seien, das Gebäude beim Volk dagegen gut angekommen sei.

Richtig spannend wurde die Diskussion schließlich beim Höhepunkt des Abends, Schultes’ Kanzleramt. „Das rätselhafteste Gebäude der Republik“, meinte Wolfgang Kil, außen pfui und innen hui, war das Fazit von Rauterberg, und Amber Sayah entdeckte tatsächlich die von Schultes zitierten Vorläufer, etwa das Ischtar-Tor oder Theben. Das vernichtende Urteil des FAZ-Kritikers Heinrich Wefing, vor dem monumentalen Kanzleramt verzwerge der Mensch, wollten sie jedenfalls nicht gelten lassen. Obwohl es, vor allem im Urteil über die Innenarchitektur der beiden Büroriegel, unterschiedliche Meinungen gab.

Am Ende des Abends aber waren alle zufrieden. Architektenchef Conradi, weil er mit einem solchen Publikumszuspruch eigentlich nicht gerechnet hatte, die Zuschauer, weil sie sich in ihren Urteilen, von wem auch immer, bestätigt fühlten, und die Kritiker, weil sie die Zuschauer in ihren Bann ziehen konnten. Nur die betroffenen Architekten waren nicht anwesend. Hans Kollhoff hatte sich sogar geweigert, für die Präsentation seiner Leibnizkolonnaden Bildmaterial zur Verfügung zu stellen.