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: HELMUT HÖGE über Befreiung

„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“

Am Tag der Befreiung legten heuer nur einige jüdische und russische Repräsentanten Kränze an den sowjetischen Ehrenmalen ab. Für die meisten Deutschen ist der 8. Mai 1945 der Tag der Niederlage. Nur für die wenigen Berliner Widerständler sah das anders aus.

Oskar Huth erzählt in seinem soeben im Merve-Verlag veröffentlichten „Überlebenslauf“, wie die Russen ihn in der Meinekestraße nötigten, Wodka auf den Sieg zu trinken – „auf ex“, was für ihn als „freischaffender Kunsttrinker“ kein Problem war, „aber wer’s nicht konnte, so hab ich’s erlebt ..., den haben sie erschossen!“

Das war einmal ganz anders: 1813 wurden die in Berlin einfallenden Russen – „Kosaken“ – begeistert empfangen, und man zwang sie, Branntwein noch und nöcher zu trinken. Viele betrunkene Kosaken wurden daraufhin von Franzosen erschossen.

Der Dichter Häring, damals Schüler am Friedrich-Werderschen Gymnasium, schrieb: „Wochenlang warteten wir vergebens auf die Befreier, auf den Türmen gingen die Fernrohre von Hand zu Hand. Wir wollten Freiheit, die alte Selbstständigkeit etc. Für das Viele fehlte uns gerade ein Symbol. Da gab man uns das Wort Kosak! Mit Branntweinflaschen und Gläsern standen die Bürger vor ihren Türen.“

Aber die ersten Kosaken, das waren nur Vorausabteilungen – Pulks: „Die asiatischen Reiter waren unübertreffliche Meister im kleinen Krieg (Guerilla)“.

Am 20. Februar rückte das ganze russische Korps von Pankow im Berliner Norden aus in die Stadt – bis zum Alexanderplatz vor, von den Einwohnern mit lautem Jubel begrüßt. Von dort mussten sie sich aber wieder zurückziehen.

Währenddessen näherten sich andere Kosakenpatrouillen aus dem Osten von Marzahn und Ahrensfelde, in Weißensee und Hohenschönhausen warteten sie auf weitere Befehle. Dann versuchten sie noch einmal den Alexanderplatz einzunehmen. Sie wurden in die Münzstraße abgedrängt und stoben in alle Richtungen davon. „Dass sie nicht gefangen worden sind, ist unzweifelhaft den ihnen als Wegweiser dienenden Berlinern zu danken“, schreibt der Husarenleutnant von Hobe.

Die Hoffnung der Russen, dass es zu einer „Volkserhebung“ kommen würde, wurde jedoch enttäuscht. Ihre Offiziere schimpften laut auf die Berliner. Als von Hobe zum Hackeschen Markt reitet, findet er dort einen Trupp Berliner Bürgergarde. Statt mitzukämpfen gegen die Franzosen, hat aber auch sie nur die Aufgabe, „darüber zu wachen, dass die Einwohner sich nicht in das Gefecht mischten“.

Diese beschränkten sich dann auch meistens darauf, Hurra zu rufen, wenn sie einen Russen sahen, ihm Branntwein anzubieten und ihn gegebenenfalls vor den Feinden zu verstecken – und umgekehrt, wenn sie Franzosen sahen, zu schimpfen oder böse zu kucken.

Am 4. März endlich verließen die Franzosen Berlin in Richtung Süden, und die Russen rückten von Norden in die Stadt. Der Kosaken-Oberst von Tettenborn schreibt an den Freiherrn von Stein, der in russischen Diensten stand: „Die Damen haben uns am besten empfangen; denn als ich in die Stadt sprengte, flogen mir aus allen Fenstern Schnupftücher entgegen; aber die Männer wollten nicht zuschlagen, und das war das Wichtigste“. Also das Deprimierendste an Berlin.

Der Gymnasiast Ludwig Rellstab schreibt: „In der Friedrichstraße riefen die Kosaken ‚Franzos kaputt!‘, und das Volk antwortete mit Hurra. Unter den Linden, an der Wache beim Kupfergraben, war ein Kosak durch Kartätschenkugeln getroffen worden. Seltsamerweise hatte das Volk sich über ihn geworfen, und seine Kleider, ja sein Fleisch schien in Reliquien verteilt worden zu sein. Denn lange nachher noch bot mir einer meiner Schulkameraden als Merkwürdigkeit ein Stückchen dünnes, trockenes Fleisch an, das von jenem erschossenen Kosaken herrühren sollte“.