Die Mauer steht im Tränenpalast

Die PDS-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung diskutierte über den „Mauerbau. Eine einvernehmliche Krise“. Das Protokoll eines Gesprächs zwischen Kennedy und Chruschtschow soll belegen, dass die Amerikaner auf den Mauerbau vorbereitet waren

von PHILIPP GESSLER

Als die jungen Sozialisten mit Fahnen durchs Bild marschieren und ihr Marschlied erklingt, packt es die ältere Dame mit dem bordeauxroten Köstum und dem Zigarillo: Leise singt sie mit. Dann ist der Film zu Ende, einige klatschen. Die Mauer, das lehrte der Film, war eine notwendige Reaktion der DDR auf die Aggression der Bundesrepublik und ihrer Alliierten gegenüber dem blühenden ostdeutschen Staat. Oder etwa nicht?

„Der Mauerbau. Eine einvernehmliche Krise“ – unter diesem Titel luden bis gestern Abend die Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Berliner Verein „Helle Panke“, beide PDS-nah, zu einer Geschichtsstunde der besonderen Art. Im „Tränenpalast“, einem Veranstaltungslokal am Bahnhof Friedrichstraße mitten in der Hauptstadt, fand sie statt – einem überaus passenden Ort, denn hier stand bis zur Wiedervereinigung die bürokratisch-bedrückende Abfertigungshalle für den Ost-West-Übergang zur Zeit der deutschen Teilung. Ein zentraler Schauplatz der deutsch-deutschen Geschichte.

Mit der müht sich die Partei des Demokratischen Sozialismus seit ihrer Gründung nach dem Umsturz von 1989 öffentlich ab. Seit mehr als zehn Jahren wiederholt die PDS in regelmäßigen Abständen, dass sie sich in entscheidenden Punkten von der Politik ihrer Vorgängerpartei SED distanziere. Vor allem die Unfreiheit im SED-Regime wird kritisiert, die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED als Unrecht verurteilt, der Mauerbau als „Fehler“ bezeichnet.

Am 13. August dieses Jahres aber jährt sich der Tag des Mauerbaus zum 40. Mal. Und diese Magie der runden Zahl will die PDS-Führung nutzen, um am Jahrestag noch einmal für die Mauertoten und die Repressalien bedauernde Worte zu finden. Nach einer förmlichen Entschuldigung sieht es bislang jedoch nicht aus. Die zu erwartende Tendenz des Papiers dürfte sich an den Aussagen des ehemaligen PDS-Vorsitzende und Medienstars Gregor Gysi orientieren, der kürzlich seiner Partei riet, zwar die Mitverantwortung für den Mauerbau zu übernehmen, aber sich nicht in aller Form zu entschuldigen. Schließlich sei die Mauer „nicht sozialistisch gewesen“: Zum Zeitpunkt der Sperrung der innerdeutschen Grenze im August 1961 sei es vielmehr um den Erhalt des Status quo zwischen den USA und der Sowjetunion gegangen.

Dieser Grundlinie folgt auch die Veranstaltung der PDS-nahen Organisatoren im „Tränenpalast“, wie die Halle schon zu DDR-Zeiten genannt wurde. Für zehn Mark Eintritt schaut man auf die Bühne. Auf die Leinwand darüber wirft ein Dia überdimensional das Veranstaltungsplakat: Zu sehen sind die zwei lachenden Staatsmänner Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy. Der Sowjetführer und der US-Präsident scheinen sich einig zu sein. Waren die Amerikaner mit dem Mauerbau entgegen ihrer Treueschwüre für die Freiheit (West-) Berlins einverstanden – war der Mauerbau eine „einvernehmliche Krise“, wie das Plakat sagt?

Das ist die brisante Frage, die im Raum steht, und so liegt eine seltsame Anspannung über dem Saal: Gekommen sind vor allem ältere Herren mit weißen Haaren, die verbissen auf die Leinwand schauen, als zunächst zwei Dokumentarfilme zum Thema vorgeführt werden – „Die Mauer“ von dem „Springer“-Journalisten Matthias Walden (1961) und „Schaut auf diese Stadt“ von Karl Gass (1962). Waldens Film, im Westen gedreht, zeigt dessen ganze Empörung, ja Wut über den Mauerbau: „Freiheitsberaubung von 16 Millionen“, „Zone“, „Regime“, „rote Nazis“, „deutsche Rotarmisten“ – das ist der Tonfall.

Dann wird Gass’ Film angekündigt. Der Regisseur, ein alter Mann mit weißen Haaren, ist anwesend. Er sagt schon im Voraus: „Das, was ich da zeige, das war so.“ In seinem Film wird die DDR als ein demokratischer Staat dargestellt, der den imperialistischen Bestrebungen des „Bonner Staates“ nur durch den Bau der Mauer habe zuvorkommen können. Den Text zum Dokumentarfilm hat der berühmt-berüchtigte Karl Eduard von Schnitzler geschrieben – ein Freund von Gass. Durch den Mauerbau sei der Imperialismus auf die „Grenzen seiner Macht“ gestoßen. Als der Film aus ist, klatschen einige Leute im Publikum. Jemand ruft empört: „Pfui.“ Und erntet den Zuruf: „Sie hätten auch klatschen können.“

Gass diskutiert auf der Bühne mit dem früheren AP-Korrespondenten Rolf Steinberg, der das Geschehen damals als West-Journalist beobachtete. Der findet Gass’ Streifen „total sinnlos“ und kritisiert seine Polemik. Manche Zuschauer klatschen, andere murren vernehmlich. Gass gibt zu, dass dies ein „agitatorischer Film“ sei, aber stellt eines klar: „Ich war für die Mauer.“

Unterdessen ist im Publikum der Kalte Krieg erneut ausgebrochen: Angesichts der vielen „Geschichtsklitterungen müssten Sie sich eigentlich schämen“, ruft ein Zuschauer Gass zu. Wieder ist deutliches Murren zu vernehmen. Die Teilung der Stadt ist zumindest im „Tränenpalast“ immer noch nicht überwunden: Zweimal melden sich Frager zu Wort, die angeben, sie kämen aus „Westberlin“.

Im Publikum erzählt ein weißhaariger ehemaliger Kommunalbeamter aus Ostberlin, wie er damals den Mauerbau erlebt hat. Ein anderer Zuschauer gibt sich als Vertreter einer Organisation von politischen Gefangenen in der DDR zu erkennen und schimpft über die „rote Diktatur“ – seine Äußerungen werden mit Unruhe quittiert. Die Weißhaarigen im Publikum sind sich gegenseitig spinnefeind: Steht die Mauer noch?

Dann taucht die PDS-Landeschefin und Bundestagsabgeordnete Petra Pau mit ihren wunderbaren roten Haaren auf. Sie spricht von „Grenzsicherung“ der DDR, erklärt, dass der Mauerbau „keine einseitige Ursache“ gehabt habe, mahnt eine „Versachlichung“ der Diskussion an und ruft in Erinnerung, dass sie sich jedes Jahr am 13. August kritisch zum Mauerbau äußere und dafür bisher auch immer „Prügel“ bekommen habe. Die PDS müsse ihre historische „Verantwortung“ für das DDR-Grenzregime übernehmen, sagt sie.

Pau ist zugleich Vizevorsitzende der Gesamtpartei. Mit der PDS-Bundesvorsitzenden Gabi Zimmer hatte sie sich im April in einer persönlichen Erklärung für die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED entschuldigt. Daraufhin waren beide vom dogmatischen Flügel ihrer Partei scharf kritisiert worden. Die PDS-Führung stellte klar, dass sie Entschuldigungen für den Bau der Mauer und zur Zwangsvereinigung nicht von Parteitagen offiziell beschließen lassen wolle.

Im „Tränenpalast“ wollen die Veranstalter nach den Filmen mit einer kleinen Sensation aufwarten: „Erstmals öffentlich vorgestellt“ wird das Wortprotokoll der Unterredungen von Kennedy und Chruschtschow am 3. und 4. Juni 1961 in Wien– wenige Wochen vor dem Mauerbau. Der Vereinsvorsitzende von „Helle Panke“, Jörn Schütrumpf, wertet das Protokoll in einer Pause so, dass die Amerikaner schon im Vorfeld des Mauerbaus den Rahmen geschaffen hätten, in dem die Sowjets dann die Abriegelung gewagt hätten. Natürlich hätten Chruschtschow und Kennedy in Wien nicht den Mauerbau „vereinbart“, aber den USA sei schon früh der Bau als eine mögliche Reaktion Ost-Berlins auf die anhaltende Massenflucht aus dem ostdeutschen Staat bewusst gewesen. Also haben sie sich um des weltweiten Friedens willen bereits zuvor damit abgefunden? Das will Schütrumpf nicht unbedingt sagen, aber er betont, dass der DDR-Staatschef Walter Ulbricht damals nicht „der Entscheider“ gewesen sei: Die SED habe nur die Befehle aus Moskau ausgeführt.

In zwei Gesprächsrunden werten daraufhin Historiker, Publizisten und Politiker aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Russland und den USA das Protokoll der Wiener Unterredung aus. Der Innsbrucker Historiker Rolf Steininger betont, der Eindruck sei falsch, dass sich Kennedy und Chruschtschow etwa darauf geeinigt hätten, „gemeinsam die Mauer zu bauen“. Gleichwohl aber habe Kennedy angedeutet, dass er bei Wahrung der Rechte der Alliierten in der Stadt wegen des Weltfriedens Maßnahmen der Sowjets akzeptieren werde, die die Krise der DDR beenden würde.

War also der Mauerbau eine Bedingung für eine Stabilisierung der Lage, wie etwa der ehemalige US-Spitzendiplomat David Klein sagte, der damals im Stab des Nationalen Sicherheitsrates unter Kennedy tätig war? Und was soll dann noch eine Entschuldigung für ihren Bau? Schütrumpf jedenfalls scheint diese Frage für sich schon beantwortet zu haben: „Ich weiß nicht, was Entschuldigungen bringen“, sagt er. Die Mauertoten würden dadurch nicht wieder lebendig.