Die richtigen Bilder im Kopf

Sampras gelingt im Gegensatz zu Kiefer bei den French Open der rettende Schlag

PARIS taz ■ Pete Sampras behauptet von sich, er könne ganz gut verlieren. Beim Golf, beim Monopoly oder beim Scrabble. Seine Sucht zu siegen lebt er anderswo aus; auf einem großen Rechteck mit weißen Linien drumherum. Umgeben von johlenden Zuschauern, unter einer Dunstglocke, gefüllt mit dem leicht entzündlichen Gemisch von Hitze, Spannung und verbrauchter Luft. Er lebt sie aus in Augenblicken wie jenem am Dienstagabend in Paris, als er den dritten Matchball gegen einen aufmüpfigen Niemand namens Cédric Kauffmann abwehrte. Plötzlich stand er am Netz, streckte sich zum Volley, und während der Ball auf der anderen Seite des Netzes wie in Zeitlupe zu Boden fiel, hörte man schon das Raunen des Publikums. Das sind die Momente, das sind die Schläge, die die Herrscher vom Volk unterscheiden.

Fast zur gleichen Zeit brachte sich Nicolas Kiefer innerhalb weniger Augenblicke um den Lohn seiner Arbeit. Immer wieder hatte er sich aufgerappelt gegen den angriffslustigen Spanier Juan Balcells, hatte im fünften Satz noch einen 0:3-Rückstand wettgemacht, doch dann schenkte er Balcells mit einem Doppelfehler den entscheidenden Vorteil.

Die Fähigkeit zur Selbstkritik gehört nicht direkt zu Kiefers Stärken, doch in diesem Fall gab er zu, das sei ein dummes Aufschlagspiel gewesen. „Da kämpfe ich dreieinhalb Stunden wie ein Wahnsinniger, und dann kriege ich so ein blödes Break ...“ Im Gegensatz zu vielen Gelegenheiten in den vergangenen eineinhalb Jahren war Kiefer diesmal nichts vorzuwerfen. Er selbst meinte: „Das Kämpferische ist wieder da, die Emotionen sind wieder da“, woraus man immerhin schließen kann, dass er selbst glaubt, das sei nicht immer so gewesen.

Vielleicht muss man nicht den ganz großen Vergleich mit Sampras wählen, um zu beschreiben, was ihm an diesem Abend fehlte. Der Kollege Jens Knippschild sagte nach einem Sieg in fünf Sätzen gegen Fernando Vicente aus Spanien: „Ich hatte zum Schluss bei jedem Aufschlag Krämpfe. Aber ich hab noch nie in fünf Sätzen verloren, und ich hab mir gedacht: irgendwie gewinne ich auch das noch.“ Keiner weiß, was Nicolas Kiefer gedacht hat, als er den Ball zum letzten Aufschlag in die Luft warf, aber es gab nicht allzu viele Erfolgserlebnisse aus der letzten Zeit, an die er sich in diesem Moment erinnern konnte.

Ob Knippschild oder Kiefer oder Sampras – im letzten Moment brauchen sie die passenden Bilder im Kopf, um Körper und Geist zu signalisieren: Jetzt geht es um alles. Der Unterschied ist, dass Sampras nach so vielen Jahren und Erfolgen dabei die freie Auswahl hat. Jenen zauberhaften Volley beim Matchball, den hat er in vergleichbaren Situationen schon hundertmal gespielt. Es gibt keine größere Hilfe als die Sucht, dasselbe noch einmal zu tun. DORIS HENKEL