Die schwere Last des bunten Todes

600.000 Zuschauer feierten am Sonntag die 4.000 Teilnehmer des Karnevals der Kulturen in Kreuzberg. Mit einer Gruppe Auszubildender tanzte erstmals auch die 23-jährige Glacia Katharina Brand mit. Doch schon nach halber Strecke war Schluss

von KATJA BIGALKE

Sie ist furchtbar aufgeregt. Sie hat die Nacht kaum geschlafen. Zum ersten Mal ist die angehende Gastronomiefachfrau Glacia Katharina Brand beim Karneval der Kulturen in Berlin-Kreuzberg. Nicht nur als Zuschauerin, sondern als eine der rund 4.000 TänzerInnen, MusikerInnen und SängerInnen. Und das fast an der Spitze des Zuges – direkt hinter den den Trommlern von Afoxé Loni, die die Straße von bösen Geistern reinigen sollen. Dort tanzt ihre Gruppe „Das Lebensrad“ von der Kreuzberger Jungendkunstwerkstatt „Schlesische 27“.

Noch eine Stunde vor Beginn des Umzugs ist niemand wirklich fertig. Die Karnevalprofis vom Cardiff Carnival in Wales, die zwei Wochen lang mit den Jugendlichen des gastronomischen Ausbildungszentrums der Werkstatt der Kulturen die Kreativarbeit an den Kostümen geleistet haben, malen im Akkord an den 70 Karnevalisten vom „Lebensrad“ herum. Noch ein schwarzer Strich auf den weiß gepuderten Arm, noch ein blaues Aquarell auf die Gesichter der ozeanischen Fraktion. Hier muss einem Tänzer aus Houston noch in die mit Kresse bestickte Weste geholfen werden, dort fehlt einem Kind der Musikgruppe Yoyo sein Instrument.

Katharina bahnt sich einen Weg durch das Getümmel grüner Libellenflügel und blauer Seesterngefieder, die die Jugendlichen auf dem Rücken tragen und holt sich erst mal einen Kaffee. Noch fehlt ihr Kostüm: drei überdimensionale Totenköpfe auf Stangen, die aus einer Art Rucksack herausragen. Der Aufsatz überragt die zierliche 23-Jährige fast um das Doppelte. Die viele Farbe, die sie auf die Pappmaschee-Schädel gemalt hat, macht das Backpack-Kostüm enorm schwer. Deswegen will sie mit dem Verkleiden warten, bis der Zug anfängt.

Katharina hat sich für das Thema Tod entschieden, weil sie in Mexiko mal an einer Totenfeier teilgenommen hat. „Ich fand das wunderschön, dass man dort den Toten ein Fest weiht, wo man tanzt und der Tod nicht schwarzweiß neben dem Leben steht, sondern ganz bunt ist.“ Ihre Totenköpfe hat sie daher mit Pailletten verziert, Blumengirlanden schmücken die Pappschädel.

Neben dem Tod hat sich das „Lebensrad“ auch das Leben und die Geburt vorgenommen. Shona aus Wales hat die Kostüme inhaltlich ganz grob in Erde, Feuer und Wasser eingeteilt. Die konkrete Ausgestaltung haben die Jugendlichen dann in wochenlanger Kleinstarbeit gebastelt. Für den Spaß hat die Gruppe etliche „Überstunden“ in Kauf genommen. „Wir waren im ethnologischen Museum in Dahlem, da her haben wir die polynesischen Motive für die Kleider der Musiker“, erklärt Shona. „Der Rest ist eine Mixtur aus afrikanischer, indischer und südamerikanischer Kultur.“

Shona und die zwei anderen Waliser verstehen sich als „facilitators“: „Wir helfen Leuten beim Karneval ihre Ideen umzusetzen.“ Für den 31-jährigen Ben, der seit sieben Jahren in Sachen Karneval unterwegs ist, sind Straßenveranstaltungen Berufung und Karneval Energie. Ganz im Gegensatz zu den Gastronomieazubis: Neben den adretten Mädchen in Plateauturnschuhen und hautengen Silbertops, die aussehen wie Hostessen, wirken Shona, Ben und Judith wie Exoten. Shona trägt ihre Dreadlocks zu einem Nest getürmt, Judiths knallrote Haare baumeln auf ihr verwaschenes T-Shirt und auch Ben mit den gepiercten Brustwarzen ist hier eher Freak. Die einen rauchen selbst gedrehte Zigaretten, die anderen trinken sich mit Asti Cinzano Mut an. Dazwischen huschen verlorene Trommelkinder, dehnen sich die Tänzer. Eigentlich sollten alle tanzen oder zumindest die, die nicht trommeln – also die Gastronomieazubis. Aber schon das Aufwärmtraining war einigen zu esoterisch. Jetzt tanzt jeder wie er will – und wie er kann.

Gegen 13 Uhr setzt sich der rote „Lebensrad“-Bus mit den bunten Bambusstangen in Bewegung. Katharina rennt als Letzte hinterher, die drei Totenköpfe überschauen vom Ende her die Bilder vom Leben: vorneweg die grünen Tänzer mit den Röcken aus luftgepolsterten Plastikplanen und den Wasserflaschen am Gürtel. Dahinter die Trommler – die älteren wirken eher kannibalisch, die Kinder eher wie „Morgensonne“. Den Abschluss bildet die gespaltene Fraktion der Azubis. Die mit und die ohne Kostüm. Die Kostümierten versuchen sich unter ihre Backpacks Techno-folkloristisch, die Prinzessinnen tippeln, werfen Blumen, lächeln.

Auch Katharina versucht zu lächeln und zu tanzen. Aber bereits nach den ersten 200 Metern pfeift der Wind sie mitsamt ihrem Kostüm fast weg. Schon jetzt wird sie gestützt. Das Lächeln bleibt erst mal aus. Katharina schreit: „Wind, Wasser.“ Auch die ersten Kommentare aus dem Publikum am Straßenrand sind nicht so ermutigend: „Ist das die Aktion Mülldeponie oder was?“

Nein, das ist nicht die Aktion Mülldeponie, sondern eben Leben, Geburt und Tod. Auch wenn das keiner erkennt. Und auf Kommentare kann man jetzt eh nicht hören. Zunächst muss alle Kraft gesammelt werden, um bei der Jury einen guten Eindruck zu hinterlassen. Die guckt nämlich sehr ernst, und wenn man wie im letzten Jahr wenigstens den sechsten Platz der kreativen Kostüme erreichen will, gilt es, sich anzustrengen. Selbst Katharina gibt alles und tanzt ein wenig. Und dann lacht auch die Jury – auch wenn sie den Azubis später keinen Preis zuteilt.

Wenige Meter weiter kann Katharina nicht mehr und gibt ihren Backpack ab. Sieht jetzt aus wie die tippelnden Prinzessinen, tanzt dafür ein bisschen mehr. Tanzen ist schließlich ihre Leidenschaft. Ihre Mutter kommt aus Brasilien und „zu Hause tanzt die ganze Familie“, sagt sie. Während sie vom Karneval in Rio schwärmt, kommen die Kopfschmerzen. Katharina ist am Ende, und das nach zwei Kilometern – gerade mal die halbe Strecke. Erst mal kein Rio, erst mal in den Bus legen: Beine hoch, Kopf nach hinten und Türe zu.

Der Zug läuft weiter. Die Tänzer tanzen, die Trommler trommeln durch die nasse Kälte. Die Prinzessinnen mit den Blumen tragen jetzt Jacken über den Silbertops und rauchen. Allenfalls der indianische Mann mit dem Federn auf dem Kopf und dem String am Po, der am Zug vorbeiläuft und seine Gruppe sucht, entlockt den Mädchen einen entzückten Schrei. Die ständigen Regenschauer haben die Schminke verwaschen. Die Prinzessinnen würden jetzt ganz gerne aufhören mit dem Karneval.

Aber weiter geht’s. Die Nächsten, die schlappmachen, sind die Kindermusiker vom „Lebensrad“. Noch hauen sie zwar auf ihre Schellen, aber eher stoisch. Schieben sich auf ihren kleinen Beinen vorwärts, schauen leeren Blicks nach vorne. Dafür drehen die Waliser auf, machen Musik, halten die Tänzer auf Trab. Doch beim ersten längeren Stopp kurz vor Ende der Strecke ist nichts mehr zu machen. Die Gruppe liegt am Boden.

Auf dem ersten Wagen vertreiben die Trommler von Afoxé Loni unermüdlich die bösen Geister, hinter den erschöpften Lebensradlern tanzen die Peruaner. Auch nach deren vierstündiger Dauer-Performance zu Andenmusik lassen sie keine Müdigkeit erkennen. Vergleichsweise deprimierend: das Bild vom Lebensrad. Katharina schaut aus dem Bus. Nein, die anderen Wagen will sie nicht mehr sehen. Sie will nur noch ihre Sachen packen und in die Badewanne. Auch das Kostüm, das seit zwei Stunden Cordula, eine Praktikantin aus der „Schlesische 27“ trägt, will sie nicht mitnehmen. „Dafür ist kein Platz.“

Aus Müllsäcken sammeln Tänzer, Musiker und Gastonomieazubis ihre Kleidung zusammen, ziehen dicke Jacken über polynesische Röcke, Silberkleider und Morgensonnengewänder. Dann stiefelt jeder nach Hause. Durch den Regen.

Die Frauen von Miss Lata, die in Wäscheständern mit Unterwäsche bestückt, die Yorckstraße heruntertanzten, hat keiner der Azubis mehr gesehen. Auch nicht die Capoeira-Gruppe mit den orange Schnabelmützen, den chinesischen Drachen oder die Pappmaschee-Flugtiere.