Missionar seiner selbst

Übermorgen wird Tony Blair mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt. Der Chef von New Labour steht auf dem Höhepunkt seines Erfolgs – nicht auf dem seines Ruhms

Mit dem Wechsel zu Bush wird aus dem Netzwerk von Blair, Schröder & Co. nicht mehr viel werden

Wenige Tage vor dem britischen Urnengang bietet sich ein, um das Mindeste zu sagen, originelles Bild. Da warnen führende Labour-Politiker – vor einem Erdrutschsieg von New Labour. Ein „Desaster“ wäre ein allzu dramatischer Sieg, fürchtet ein örtlicher Labour-Bezirkskaiser, ein anderer hofft inständig, Labour könnte von der gegenwärtigen, ohnehin erdrückenden Mehrheit im Unterhaus das eine oder andere Mandat verlieren. Sehr wahrscheinlich ist das nicht. Wahrscheinlicher ist, dass der Sieg am kommenden Donnerstag noch triumphaler ausfallen wird als der vor vier Jahren.

1997 hatten 44 Prozent der Briten für Labour gestimmt. Jüngste Umfragen sehen Blair und seine Truppe heute bei 48 Prozent und damit fast 20 Prozent vor den Konservativen. Was den New-Labour-Vormann aber auch nicht froh macht. „Frustriert“ sei er von der Wahlkampagne, gestand Blair jüngst, weil es in dieser „in einem geradezu lächerlichen Maß um Kleinigkeiten und Personalityfragen“ statt um Politik gegangen sei. Der Grund: Der Unterschied zwischen Labour und Tories werde von der Presse gar nicht zum Thema gemacht. Denn es scheint derart unrealistisch, dass die Tory-Politik zur Regierungspolitik werden könnte, dass es niemand interessiert, worin sie überhaupt besteht.

Und noch aus einem anderen Grund grassiert im Blair-Lager Panik: Fällt der Sieg wirklich derart überwältigend aus, wie allerorts prophezeit, werden sich im Regierungsbezirk Whitehall bald derart viele New-Labour-Abgeordnete tummeln, dass es für die große Mehrzahl von ihnen keine sinnvolle Beschäftigung geben wird – so viele Parlamentsausschüsse und -unterausschüsse, so viele Komitees gibt es gar nicht. Was aber, wenn gelangweilte Parlamentarier auf blöde Ideen kommen? Dann könnte das Regieren trotz größerer Mehrheit bald schwieriger sein als in den ersten vier Labour-Jahren.

Die meisten europäischen Politiker werden in Hinblick auf Tony Blairs Frust versucht sein auszurufen: Seine Sorgen möchten wir haben! In das Bild der Paradoxien fügt sich: Blair steht am Höhepunkt seines Erfolgs; doch am Höhepunkt seines Ruhms steht er nicht. Zugegeben: Vor vier Jahren wurde er von einem regelrechten wind of change in die Downing Street 11 geblasen, als jungenhafter Strahlemann, der so tat, als würde er die Ärmel hochkrempeln und ein neues Zeitalter schaffen, „Großbritannien zu einem Leuchtfeuer für die Welt“ (Blair-Eigendarstellung) machen.

Von solchen Höhenflugen musste der Mann zwangsläufig in die Mühen der Ebenen hinab. Niemand kann ein Leben lang Bäume ausreißen. Außerdem ist Blair inzwischen 48 Jahre alt geworden, hat in vier Premierministerjahren sichtbarer an Spannkraft und Haardichte verloren, als man dies normalerweise in einer solchen Zeitspanne tut. Aber Blair war, kaum ins Amt eingezogen, mehr als bloß britischer Premier: Er galt alsbald als Role-Model für eine europäische Sozialdemokratie unter Modernisierungszwang, manchen auch als „Europas Clinton“. Dies hat sich aus mehrerlei Gründen leicht überlebt.

Da ist zunächst der Erfolg jenes Konzepts, das Blair verkörpert – eines wirtschaftsfreundlichen, pragmatischen Sozialdemokratismus, der die Umverteilungsrhetorik fallen gelassen hat, dennoch viele Sozialprogramme auflegt, sie verlängert, wenn sie funktionieren, sie wieder streicht, wenn sie keinen Erfolg haben. Für einen solchen Kurs braucht es keine Leittiere mehr, er ist durchgesetzt – von Schweden bis Frankreich, von Deutschland bis Brasilien ist er, bei allen „jospinistischen“ oder regionalen Nuancen, weitgehend unbestritten.

Überlebt hat sich dagegen das pathetische Konzept des „Blairismus“ – oder, wovon neuerdings die Rede ist, des „modernen“ oder „progressiven Regierens“. Die Gründe dafür liegen vornehmlich in den globalen Rückschlägen, die es erfahren musste. Sein Glanz rührte nicht zuletzt von der Identifikation mit Bill Clinton her, und mit dem Wechsel von Clinton zu Bush wird, diese Prognose sei gewagt, aus dem Netzwerk der Herren Blair, Schröder, Prodi, Cardoso & Co. nicht mehr viel werden.

Schlussendlich vermochte es Blair nicht wirklich, seine Regierungspragmatik mit einer „großen Idee“ zu versehen. Zwar gelang es ihm und seinen intellektuellen Helfern, das Wortgeklingel vom „Dritten Weg“ auf die Reise durch die Politikseiten und Feuilletons der internationalen Qualitätszeitungen zu bringen. Doch seitdem ist es um die paradoxe Ideologie der Ideologiefreiheit doch eher wieder stiller geworden. „Er wollte mit seinem Konzept eines Dritten Weges als ein Mann in die Geschichte eingehen, den man mit einer Vision, einer Idee verbindet, so wie etwa Maggie Thatcher mit dem Neoliberalismus“, resümiert Ralf Dahrendorf. „Das ist ihm nicht gelungen. Blairs Politik ist letzten Endes eine Liste von Punkten, die nicht unbedingt von einem größeren Ganzen zusammengehalten werden.“

Was bleibt, ist keine welthistorische Figur – aber ein ziemlich erfolgreicher sozialdemokratischer Politiker mit durchaus erstaunlichen Talenten. Er ist überzeugend darin, die Erfolge seiner Regierung zu unterstreichen, und er ist auch überzeugend in seinen Versprechen, das nachzuholen, was in vier Jahren nicht gelungen ist. Sein missionarischer Stil macht es glaubhaft, wenn er gebetsmühlenhaft wiederholt, er werde ein Großbritannien schaffen, das allen eine Chance gibt. Kurzum: Dem Mann glaubt man, dass er überzeugt ist von dem, was er sagt. Das beweisen alle Umfragen: Es ist weniger so, dass die Briten ihn mögen. Tony Blair ist nicht wirklich beliebt. Aber die Briten vertrauen ihm. Und das zählt mehr.

Der Glanz des „Blairismus“ rührte nicht zuletzt von Tony Blairs Identifikation mit Bill Clinton her

Letztendlich hat die Regierung Blair I „linker“ regiert, als ihre Rhetorik vermuten ließ. Hatte Schatzkanzler Gordon Brown in den ersten Regierungsjahren noch restriktive Budgets aufgelegt, so hatten die letzten beiden Haushalte verstärkt umverteilende Wirkung – bloß haben das die New-Labour-Leute nicht an die große Glocke gehängt, denn sie wollten ja ihr Image als „businessfreundliche“ Sozialdemokratie nicht verlieren. Hilfe für die Exkludierten – die Langzeitarbeitslosen, die jugendlichen Arbeitslosen, die Kinder – stand im Zentrum der Labour-Sozialpolitik.

In Großbritannien haben sich die Lebenschancen derjenigen, die ganz unten sind, in den vergangenen Jahren merklich gebessert. Gleichwohl haben sich auch die Einkommen derer an der Spitze der Wohlstandspyramide deutlich erhöht, so dass trotz sozialer Fortschritte zu Gunsten der Unterprivilegierten die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter aufging. Viel zu zaghaft war die Regierung bisher bei Investitionen in die marode Infrastruktur der Insel, in das Gesundheitswesen etwa oder ins Verkehrssystem.

Einer der erfolgreichsten Labour-Politiker aller Zeiten ist Tony Blair schon. Ob er aber ein wirklich großer Premierminister wird, das wird seine zweite Amtszeit zeigen. Und für diese Frage ist der Ausgang der Wahlen vom Donnerstag ziemlich unerheblich. ROBERT MISIK