Das Theater neben dem Plattenschrank

■ Jürgen Müller-Othzen und Insa Popken haben im Bremer Stadtteil Findorff ein Theater des bescheidenen Superlativs gegründet: „The most little private“

Das erste Theaterbild, an das ich mich abgesehen vom Kasper- und Weihnachtsspiel erinnere, ist ein riesiger Stuhl. Dieser anderthalb Meter hohe Stuhl stand ziemlich einsam mitten im Raum. Mitte der 80er muss das gewesen sein. Was sonst noch passierte, weiß ich nicht mehr. Nur noch, dass die kleine Zuschauertribüne und ein Vorhang hinter der Eingangstür den so riesenhaft bestuhlten Freiraum zum Theater, zum „Freiraum-Theater“ machten.

Dies Bild fiel mir ein, als ich am Wochenende nach der kurzen und kurzweiligen Aufführung mit dem merkwürdigen Titel „inner city midsummer night“ und einigen Gesprächen mit Anwesenden aus dem „most little private“ auf die Münchener Straße in Findorff trete. Dabei hatte ich mir vorgenommen, diesen Text mit einem „nicht“ zu beginnen, nämlich mit dem Freiraum-Theater an der Grundstraße, das es nun auch schon bald zehn Jahre nicht mehr gibt.

Nein, sagt Jürgen Müller-Othzen, der den kleinen Wohn-/Spielraum gemeinsam mit Insa Popken eingerichtet hat, nein, diesmal käme man ganz ohne Subventionen aus. Man behalte sich zwar vor, an mögliche Sponsoren heranzutreten, dies aber ausschließlich zum privaten Vergnügen.

Was mich spontan für diesen schlauchförmigen Spielort einnimmt, der neben dem Vorraum aus einer Treppe, einer Küche und einem Schlafzimmer besteht, ist, dass man vor Spielbeginn den Platten- (je nach Interessenlage auch den Kühl-) Schrank der beiden Theatermacher inspizieren kann. Wobei es schon mal passiert, dass im Bett ein brautbekleidetes Wesen liegt und Schädelknochen-Formationen herbetet. Oder eine grau geschminkte Frau am Küchentisch, der das Leben, scheint's, nichts geschenkt hat und die darum raucht, als kriegte sie's bezahlt. Schon kurz nach dem Eintreten stolperte man fast über ein Brathähnchen, das ein ein weißgesichtiger Kellner – „Sehr wohl!“ – auf einem kleinen Korbwägelchen hinter sich herdackeln lässt. In der Ecke sitzt ein abgewrackter Gigolo, faltet beständig eine Fahrkarte auf und zu, betrachtet sie, und man merkt, dass es sich bei diesem Stück Papier kaum um etwas anderes handeln kann als das berühmte Ticket to Nowhere.

So tapert man, von den beiden Gastgebenden aufs Herzlichste begrüßt, mitten hinein in eine Endlosschleife. Allem haftet etwas Vorläufiges an, aber auch die groteske Mischung aus Alltagsverrichtungen, die – wie in David Lynchs „Twin Peaks“ oder in den Filmen der Coen-Brüder – stets auf der Kippe zwischen Rührung und Unheimlichkeit stehen. Irgendwann werden die durch die Räumlichkeiten wesenden Lebensgeschichtenpartikel eingesammelt, neu verknotet zu einem trostlosen Band aus unerfüllter Liebe und und verpassten Chancen.

Bis schließlich, als sei das noch nicht genug, zumindest verbal noch eine Metamorphose draufgesetzt wird: Die vier, die sich nun als vier Insekten auf Deutschlandreise auf der Suche nach einer Lösung für ihre Probleme geoutet haben, gehen ab. Nach draußen vor die Tür, in voller Montur und die Extremitäten zusehends in Kafkaesker Verkrampfung.

Das Ensemble, das Müller-Othzen und Popken zur Eröffnung des „most little private“ geladen haben, sind das „antigone theater“. Es ist ihre vierte Produktion in anderthalb Jahren. Die „inner city midsummer night“ stellt in bizarrer Schönheit einen doppelten Emanzipationsakt dar. Denn genauso wie sich das Ensemble vom Antigonemythos wegspielt, hat es zu ersten Mal ohne einen Ensembleleiter gespielt. Der war der Schauspieler und Regisseur Jürgen Müller-Othzen. „Ich kenne das Ensemble von meinem Unterricht im Waldau-Theater. Wir haben drei spannende Sachen zusammen gemacht, aber jetzt müssen sie auf eigenen Füßen stehen.“ Was augenscheinlich ganz gut funktioniert. Die Verbindung von verlangsamenden Butoh-Elementen und alltäglich Groteskem trägt aber schon noch seine Handschrift? Da lächelt er ein weiteres Mal bescheiden.

Jedenfalls hängen im Spielraum nicht zufällig zwei Plakate: das der legende Kazuo Ohno und eines einer osteuropäischen Kompanie, „Apocalypsis cum figures“. Lieder wird es im „most little private“ geben, Performances und Theaterstücke, mit denen Müller-Othzen die Trennungen zwischen Theater und Wirklichkeit, zwischen Spieler und Zuschauer aufheben will. Ein sympathisches, viel versprechendes Start-up. Über allem schwebt die Idee Karl Valentins, der einst über den Theaterzwang fantasierte und auf die wunderschöne Idee verfiel, dann könne man ja auch Millionen Theater für je einen Zuschauer einrichten.

Tim Schomacker

Ab jetzt gibt es diverse kleine Produktionen im „most little private“, Münchener Straße 47, zu sehen. Kontakt, Spielplaninfos und wegen der kleinen Spielstätte nötige Voranmeldung unter Tel.: 794 98 01.