ANGELA MERKEL LEGT EINE GRUNDSATZERKLÄRUNG VOR, DIE NICHTS ERKLÄRT
: Wo geht’s denn hier zur Mitte?

„Je einfacher denken ist oft eine Gabe Gottes“, hat Konrad Adenauer einmal gesagt. Ob Angela Merkel glaubt, auf seinen Spuren zu wandeln? Da täte sie dem Alten unrecht. Selbst sein großes Vorstellungsvermögen hätte wohl nicht ausgereicht, um eine derart schlichte Denkungsart bei einer Nachfolgerin für möglich zu halten, wie sie jetzt in der Grundsatzerklärung von Angela Merkel zum Ausdruck kommt.

Politische Erklärungen sind häufig nicht gerade von hoher literarischer Qualität, und sie strotzen oft von schwer erträglichen Gemeinplätzen. Aber es gibt graduelle Unterschiede. Das Papier von Angela Merkel reizt allenfalls in sprachlicher Hinsicht zum Widerspruch. Die CDU-Vorsitzende hält „Priorität für Orientierung“ für eine im Deutschen mögliche Formulierung und setzt sich folgerichtig ausgerechnet in diesem Abschnitt dafür ein, dass alle auf Dauer hier lebenden Ausländer künftig Sprachkurse besuchen. Außerdem definiert sie die „Wir-Gesellschaft“ als Ziel einer modernen Politik der Mitte. Bei Ludwig Erhard hieß das wenigstens noch formierte Gesellschaft. Kitsch schärft das politische Profil für sich genommen noch nicht.

Aber Angela Merkel will ja darüber hinaus die Entwicklungshilfe anheben, den Klimaschutz verbessern, den Nachwuchs fördern, das Familiengeld erhöhen und für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität eintreten. Wer würde da nicht jubelnd zustimmen? Leider hat sie zu erwähnen vergessen, dass sie Erdbeben ablehnt.

Man kann den Weg der CDU hin zur politischen Mitte und weg vom Konservatismus, den ihre Vorsitzende behauptet beschreiten zu wollen, für richtig oder für falsch halten. Aber dieser Weg ist nicht gleichbedeutend mit einer Ansammlung von Plattitüden. Um Inhalte zu ersetzen, greift Merkel zu großen Worten: „Den Menschen in Deutschland“ will sie „einen neuen Vertrag“ anbieten. Unter Rousseau tut sie’s nicht.

Es ist ein Naturgesetz, dass Macht sich umso einfacher erringen und erhalten lässt, je weniger man beim Streben danach durch eigene Überzeugungen behindert wird. Angela Merkel war für dieses Gesetz lange ein Beispiel, und es gilt nicht nur für Politiker. Wer es bei seiner Karriere befolgt, wandert jedoch auf einem schmalen Grat. Ist man erst einmal in den Verdacht geraten, die Macht ausschließlich um ihrer selbst und nicht um irgendwelcher höheren Ziele willen anzustreben, dann ist die eigene Position in Gefahr. Dann müssen schleunigst Überzeugungen her.

Bundeskanzler Gerhard Schröder hat diese Erfahrung ebenfalls machen müssen. Ebenso wie Angela Merkel ist er ein Politiker, der – um es freundlich zu formulieren – seine Stärke eher im Moderieren von Konflikten sieht als darin, Stellung zu beziehen. Eigentlich gefällt das der harmoniesüchtigen deutschen Öffentlichkeit. Sie möchte seit je am liebsten, dass sich alle vertragen. Prinzipienlosigkeit aber schätzt sie dennoch nicht. Wird diese erst einmal jemandem unterstellt, dann haben er oder sie es schwer, die Stimmung erneut zu den eigenen Gunsten zu wenden.

Schröder war in dieser Gefahr, und er hat sie erkannt – Ergebnis war das Schröder-Blair-Papier. Erfolg hat der Kanzler mit diesem Ausflug in die Programmatik nicht gehabt, und er hat seither derartige Experimente nicht wiederholt. Das musste er auch nicht: Sitzt ein Regierungschef erst einmal einigermaßen fest im Sattel, dann werden von ihm keine Grundsatzerklärungen mehr verlangt. Er hat das Heft des Handelns in der Hand. Das reicht als Ersatz. Gerhard Schröder konnte überhaupt nur deshalb in den Ruch der irrlichternden Beliebigkeit kommen, weil sein Kabinett relativ viel Zeit brauchte, um Tritt zu fassen.

Eine Oppositionsführerin hat es da schwerer. Sie agiert nicht – sie kann stets nur reagieren und kritisieren. Angela Merkel wurde nicht zur CDU- Vorsitzenden gewählt, weil sie über bestimmte Fähigkeiten verfügte, sondern vor allem deshalb, weil sie einiges nicht war: Sie war nicht durch die Finanzaffäre belastet, sie war nicht Mitglied der alten Seilschaften, sie gehörte nicht der alten Generation an. Für einem fulminanten Start reichte das. Aber auch nicht für mehr. So häufig ist ihr in den letzten Monaten der Vorwurf gemacht worden, sie stehe eigentlich für gar nichts, dass sie dem endlich entgegentreten mussate. Durch ihr Papier aber hat sie diesen Vorwurf nicht etwa widerlegt, sondern bestätigt. Ach, Schäuble. BETTINA GAUS