Die besser bewaffnete Liebe

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Sechs Milliarden Schulden: Weiter südlich auf der Erde wäre das mit einem Militärputsch kein Problem

Untergang ist Untergang? Schluss. Ende. Aus! Nur Banausen denken so. Untergehen ist eine Stilfrage.

Berlin. „Pearl Harbor“. „König Lear“. Eine Stadt. Eine Flotte. Ein König.

Die Stadt geht schon etwas länger unter, die Flotte ab heute im Kino und der König bereits seit einer Woche am Deutschen Theater. Es ist also eine einzigartige Gelegenheit, das Untergeherwesen zu studieren. Wir lernen, nirgends gibt es so gewaltige Unterschiede wie hier, was man gar nicht vermuten sollte angesichts der gewissen Monotonie des Ergebnisses: entschlossene Rückkehr aller Mitwirkenden ins Nichts.

Shakespeares Lear ist der Untergeher schlechthin. Das Unwiderstehliche an Untergängen auf dem Theater ist normalerweise, dass sie heimlich Erhöhung bedeuten. Insofern ist das Theater durchgeführtes Christentum. Es gilt: Je radikaler, je hoffnungsloser der Untergang, desto lebendiger der Untergegangene! Eine Logik, die aber nicht immer funktioniert, was man an der Berliner Bankgesellschaft ersieht. Sechs Milliarden Miese. Berlin ist ziemlich pleite.

Sechs Milliarden! Das klingt kein bisschen nach Auferstehung. Darum gibt es bereits Überlegungen, den Vier-Mächte-Status für Berlin wieder einzuführen, schon weil weit und breit niemand zu entdecken ist, der gern einen Militärputsch in der Hauptstadt machen möchte. Jedenfalls hat Harald Martenstein im Tagesspiegel darüber nachgedacht. Weiter südlich auf der Erde wäre das mit dem Militärputsch überhaupt kein Problem – bei sechs Milliarden Miesen, Korruption, Misswirtschaft und großer Koalition! –, woran wir ermessen, dass eine Demokratie auch Nachteile hat. Schon weil die Neigung zu Unbedingtheitsreaktionen wie Militärputschen im Durchschnitt der Bevölkerung signifikant sinkt.

Unbedingtheitsreaktionen zeichnen sich durch ein Höchstmaß von Einsatz bei einem gleichzeitigen Mindestmaß an rationaler Kontrolle aus. Also ungefähr so was wie die Liebe, bloß besser bewaffnet. Die Liebe, besser bewaffnet, ist der Patriotismus. Darum geht es in „Pearl Harbor“. Eine Tieffliegergeschichte. Überhaupt ist die sprachliche Verbindung der Wörter „Militär“ und „Putsch“ diffamierend, denn es liegt eine herabsetzende Einstellung zum Wesen des Militärs darin. Wer würde schon einen Putschisten in eine Akademie aufnehmen? Als Putschist bist du intellektuell abgemeldet. Vielleicht macht deshalb niemand einen Militärputsch in Berlin.

Die Verkopfung unserer Zeit ist schuld. Nur Amerika wehrt sich noch immer gegen den Status der Spätkultur. – Verkopft? Ich? – Irgendwie könnte man die Empörung seines Präsidenten sogar verstehen. Zur Sicherheit trägt Bush immer Cowboystiefel unter den Anzughosen. Wegen der alten Nietzsche-Warnung: „Und verwechselt mich nicht!“

Ab heute passiert das nicht mehr. Denn nun gibt es „Pearl Harbor“ auch bei uns. „Pearl Harbor“ ist einer der teuersten Untergänge aller Zeiten und der erste kongeniale Film der Bush-Ära. Er unterscheidet sich vom Untergang Berlins insofern, als der Untergang Berlins besagte sechs Milliarden kostete, der Untergang der amerikanischen Flotte vor Hawaii am 7. Dezember 1941 aber nur 300 Millionen. Doch sowohl der Untergang Berlins als auch jener amerikanischen Flotte, Regie: Michael Bay, gehören in die Kategorie der schlechthin unerklärbaren Untergänge. Das heißt, je besser man sie kennt, desto weniger versteht man sie. Philosophen formulieren diesen kognitiv erstaunlichen Umstand meist so: Wie war das, was wirklich ist, überhaupt möglich?

Es gab vor ein paar Jahren mal im Kino ein sinkendes Schiff, das ungemein erfolgreich wurde. Außerdem war es das größte sinkende Schiff aller Zeiten. Es handelte sich demnach um eine minimale Variation der Lear-Logik: Je größer der Untergang, desto lebendiger der Untergangene! Das ist zugleich die Erklärung von „Pearl Harbor“. Produzent Jerry Bruckheimer, in Hollywood auch bekannt als oberster Sprengmeister, kurz „Master of Desaster“ genannt – von seinen über dreißig Filmen gewannen genau zwei den Oscar: für die beste Musik –, Jerry Bruckheimer also dachte gewiß so: Die „Titanic“, wer wollte das bestreiten, war ein großes Schiff. Und doch hatte es einen Mangel. Es war nur eins. Eine untergehende Flotte dagegen besteht aus unglaublich vielen untergehenden Schiffen. Und je größer der Untergang ... Shakespeare.

Je größer der Untergang, desto größer der Untergegangene – das ist Shakespeares Logik und die in Hollywood

Verkopfung? Kann man so nicht sagen. „Pearl Harbor“ ist doch eher ein kompromissloser Beitrag zur geistigen Abrüstung. Tieffliegergeschichte eben. Großes Plädoyer für die besser bewaffnete Liebe: „Es gibt nichts Stärkeres als das Herz eines Freiwilligen!“ Das sagen die Putschisten auch immer. – Und dann sinken sie alle noch einmal, ein Schiff nach dem anderen, auch die „Arizona“. 40 Minuten lang nichts als Untergang. Die „Arizona“ ist das Schlachtschiff, in dem noch immer 1.102 Marines von damals liegen. Obendrüber standen gerade „Pearl Harbor“-Produzent Bruckheimer und Regisseur Bay auf einem Flugzeugträger. Das war bei der Fünf-Millionen-Premierenparty, mit der die Berliner Bankgesellschaft absolut nichts zu tun hatte und zu der alle amerikanischen Präsidenten kommen sollten. Doch Reagan konnte nicht, und die anderen wollten alleine nicht losgehen.

Wir kennen das Schiffeuntergehen ja schon von der „Titanic“. Aber Bruckheimer behielt Recht: wenn eine Flotte untergeht, ist das wirklich noch lauter, als wenn ein einzelner Dampfer sinkt. Und dazu die Granaten. Ein bisschen genervt hat es auch schon, als Ben Affleck und sein bester Freund mit der freiwilligen Kraft der zwei Herzen immerzu „Gebt uns ein Flugzeug!“ riefen. Trotzdem haben wir richtig gerechnet zwischen all den Bomben und Torpedos: Vom Berliner Haushaltsdefizit hätte man zwanzigmal „Pearl Harbor“ drehen können. Ist natürlich ganz verschieden, was einer macht, wenn er sich langweilt im Kino. Als Affleck und der andere dann ihr Flugzeug hatten, kamen wir zu der Überzeugung, dass der Vier-Mächte-Status für Berlin auch keine Lösung ist. DDR ist besser! Denn das mit der Misswirtschaft war doch ein Vorurteil. Mit Franz Josef Strauß’ Milliardenkredit hat die DDR noch fast volle zehn Jahre überlebt! Man könnte die DDR als Stadtstaat wiedergründen, Bayern gibt uns einen neuen Kredit und alles wird gut. Da drehten Affleck und sein bester Freund plötzlich ab Richtung Japan. Sonderstaffel. Nach Hiroshima? Das Wort stand lange schon an den Rändern des Bewusstseins. Und Bruckheimers Film lässt es an keiner Stelle durch. Es hätte ihn unmöglich gemacht, von Anfang an.

Untergehen ist also das, was keiner übersteht. Höchstens Grashof als Lear im Deutschen Theater. Ein Ein-Mann-Untergang. – Falsch untergegangen!, riefen trotzdem fast einmütig die Zeitungen. In einer unglücklichen Inszenierung, mag sein. Aber spielt er nicht mit unserer Fremdheit? Ein Ent-Täuscher. Ein Zumuter. Ein Angreifer. Und wir blicken in etwas hinein, von dem wir nicht sicher sind, ob wir es überhaupt sehen wollten. Vierhundert Jahre alte jämmerliche Kindskopfkönige, und jeder ist es selbst. Untergang mit Zuschauern? Unmöglich. Das zuletzt unterscheidet die echten von den falschen Untergängen.