Hass auf der Haut

Es ist wieder so weit – ein Sommer voller Tätowierungen liegt vor uns

Die schmerzhafte Mode hat alle Höllenkreise des gesellschaft-lichen Lebens durchdrungen

Und es ist Sommer. Bedeutet unter anderem: Es gibt, so die Temperaturen ins Erträgliche steigen, viel nackte Haut der Mitmenschen zu sehen, und je mehr nackte Haut zu sehen ist, desto mehr Bilder, Schriftzeichen und Verzierungen auf nackter Haut. Gleichsam programmatisch trägt die Kassiererin im Freibad, nennen wir sie Frau Nemetz, weil das auf dem Schild steht, einen – kann die Kamera bitte ein Stückchen näher kommen? – einen Drachen auf dem rechten Oberarm.

Der im Doppelsinn oberflächlich umherschweifende Blick lässt nur einen Schluss zu: Im Sektor „Körperbemalen, Brandmarken, Tätowieren“ hat sich quantitativ und, was allerdings noch zu untersuchen wäre, vielleicht auch qualitativ einiges getan, ja, es ist nicht übertrieben, das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts als das des fortschreitenden, sich ausbreitenden, manisch-leichtfertigen Tätowierungs- und Piercing-Irrsinns zu bezeichnen. Die zumindest in der Anschaffung schmerzhafte Mode hat alle Höllenkreise des gesellschaftlichen Lebens durchdrungen.

Zwar würde man auch heute kaum Vorstand der Deutschen Bank, ließe man sich auf die Fingerrücken L-O-V-E und H-A-T-E stechen, wie es auf Robert Mitchums Pranken in Charles Laughtons Film „Die Nacht des Jägers“ zu lesen ist. Aber ich würde wetten, dass etliche Mitglieder der Managementkaste im Textil-Verborgenen ein schickes Logo ihrer Wahl in die Haut geritzt haben. Der Jetset jeder Couleur wiederum lässt sich erst recht nicht lumpen, unterzieht sich dem Strapazen und zeigt danach gern – zu entnehmen jedem beliebigen Lifestyle-Fitness-Magazin – diversen mit Nadel und Farbe applizierten dermatischen Schmuck.

Als ich Anfang der Neunzigerjahre für eine Stadtillustrierte eine Geschichte über die lokale Nadelstich-Szene recherchierte, existierten in unserer kleinen Großstadt zwei oder drei offizielle Tattoo-Werkstätten, heute sind es laut Branchenbuch elf, die Namen führen wie „Eternal Delight“ oder „White Spirit“. In den Gelben Seiten Berlins übrigens fand ich 34 Unternehmen, wobei die berüchtigte Dunkelziffer in der ominösen Grauzone die Gesamtzahl um ein Mehrfaches übertreffen dürfte.

So um 1990 herum erschien auch der erste Roman der Queen-of-Punk-Reporterinnen Julie „Bitchkill“ Burchill. Die Heldin des Buches lässt sich gegen eine entsprechend hohe Summe, die ihr ein mordsreicher Stinkstiefel anbietet, das Wort SOLD (was nicht Sold heißt, sondern verkauft) auf die Stirn tätowieren. In der zärtlicheren, geradezu schmusewilligen Wirklichkeit allerdings lassen sich Mädchen zu 99 Prozent eine zierliche Rose aufs Schulterblatt stechen, und da blüht sie, bis sie mit dem Restkörper zu Staub zerfällt. Das einsame Prozent, das zu hundert noch fehlt, scheint, wenn man dem Titel des vorletzten Spiegel glauben darf, um den Bizeps etwas anderes, was tüchtig picksen kann, sich winden, das Abbild einer Rolle Stacheldraht.

Abgesehen von einigen Tierrassen, die sich eher unfreiwillig tätowieren lassen müssen, wie der Katalog der Firma Paul Funke & Co. (um 1919) verrät, in dem Schermaschinen, Milchfettbestimmer, Bullenringe und Tätowierzangen angeboten wurden, war es in früheren Zeiten einigermaßen simpel: Tätowiert war der klassische Außenseiter: Rocker, Knackis, Seeleute und „Wilde“, sie waren gezeichnet und vermutlich stolz darauf. Joachim Schultz’ „Wörterbuch zum Primitivismus“ verweist auf die Faszination, welche die Kunst des Tätowierens auf die Avantgarden zwischen 1900 und 1940 ausübte. Carl Einstein zum Beispiel sah in der „bewußten Abaenderung des menschlichen Koerpers“ eine der frühesten künstlerischen Formen. Die Körperbilder, heißt es weiter, wurden zur „Antiware“ (Benjamin), „mit der die Avantgarde ihre Andersartigkeit demonstriert“, und Henri Michaux war bereits 1929 der Ansicht, dass die „weiße Rasse sehr bald die Tätowierung einführen“ werde. Man stellte sich bewusst auf die Seite des Anderen, des Antibürgerlichen und berief sich dankbar auf das Vorbild Rimbaud, der sich am ganzen Körper tätowieren und hässlich wie ein Mongole werden wollte. Vielleicht ist das eine Erklärung der Tattoo-Mania: behauptetes Außenseitertum als purer Mainstream, in der Art wie Tausende im „Leben des Brian“ dem Titelhelden unisono nachsprechen: „Ja, wir sind individuell.“ Rimbauds Buch heißt „Eine Zeit in der Hölle“.

DIETRICH ZUR NEDDEN