: Entweder Reform oder Revolution
von THOMAS DREGER
Für Meinungsforscher ist es wohl eine der langweiligsten Wahlen der Welt. Denn das Ergebnis steht bereits fest: Mohammad Chatami bleibt Präsident des Iran. Dennoch werden die heutigen Präsidentschaftswahlen und ihre Folgen das Schicksal der über 62 Millionen IranerInnen wahrscheinlich entscheidend beeinflussen. Es geht darum, ob das System „Islamische Republik“ so weit reformierbar ist, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung damit arrangieren kann oder ob ein Umsturz droht.
Chatami ist der einzige reformorientierte und damit für die meisten Wahlberechtigten einzig akzeptable Kandidat. Über die Zulassung zur Kandidatur entscheidet der mächtige konservative Wächterrat. Das Gremium prüft offiziell nur, ob die Aspiranten intellektuell und religiös für das Amt geeignet sind. De facto betreibt der Rat jedoch Politik. Von vornherein ausgeschlossen werden Personen, die im Verdacht stehen, den Prinzipien von Revolutionsführer Ajatollah Ruholla Chomeini kritisch gegenüber zu stehen, sowie Frauen. Übrig blieben acht so genannte Unabhängige, zumeist Konservative, Exgeheimdienstminister Ali Fallahian und Mohammad Chatami.
Absage an die Konservativen
Chatami wurde vor vier Jahren bei hoher Wahlbeteiligung überraschend mit einer Mehrheit von 70 Prozent gewählt. Das schockierte konservative klerikale Establishment erwog kurzfristig, die Wahlen zu annullieren. Der Geheimdienst belehrte sie eines Besseren: Ein solcher Schritt hätte unweigerlich zum Volksaufstand geführt. Damals wurde Chatami nicht etwa gewählt, weil die Bevölkerung wirklich Vertrauen in ihn hatte. Man kannte ihn kaum. Der Mullah mit dem schwarzen Turban, der ihn als direkten Abkömmling des Propheten Mohammed auszeichnet, war zwar mehrere Jahre Minister für Kultur und Religiöse Führung gewesen, hatte sich danach jedoch in sein Schneckenhaus als Leiter der Zentralbibliothek von Teheran zurückgezogen. Für die meisten seiner WählerInnen war die Stimme für Chatami schlicht eine Absage an die Konservativen. Vier Jahre später ist alles anders. Chatami wird an seinen bisherigen Leistungen als Regierungschef gemessen. Die können sich nicht überall sehen lassen.
Zwar löste der Präsident in den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit etliche seiner Versprechen zumindest ansatzweise ein. Plötzlich kümmerten sich Revolutionswächter nur noch mäßig um die Beachtung der strengen Bekleidungsvorschriften für Frauen, in Parks dudelte Musik, die schwerlich mit dem bisherigen Moralkodex in Einklang gebracht werden konnte, Pärchen liefen Händchen haltend durch Teheran, und niemand kontrollierte, ob sie auch verheiratet waren. Und das Wichtigste: Dutzende reformorientierte Zeitungen entstanden, in denen sogar über die Trennung von Staat und Religion diskutiert werden durfte. Unter Intellektuellen wurde gar öffentlich über die Abschaffung der von Chomeini erfundenen „Statthalterschaft der Rechtsgelehrten“, der ideologischen Grundlage der Islamischen Republik, philosophiert. Doch spätestens seit Juli 1999 rüsteten die Konservativen auf. Weil eine reformorientierte Zeitung von der konservativen Justiz verboten worden war, gingen damals tausende Studenten auf die Straße. Die sechstägige Revolte – geführt von Anhängern des Präsidenten – wurde von Polizei, Militär und Geheimdienst blutig niedergeschlagen. Doch Chatami schwieg.
Seither wurden fast sämtliche progressiven Zeitungen und Zeitschriften verboten. Die Chatami-Anhänger haben kaum ein Medium mehr, in dem sie ihre Meinung publizieren können. Etliche Studentenführer, Intellektuelle und oppositionelle Politaktivisten landeten entweder im Gefängnis oder verschwanden spurlos. Im Mai dieses Jahres wurde gar erstmals seit fast einem Jahr eine Frau zu Tode gesteinigt. Zwei weitere warten derzeit auf ihre Hinrichtung. Und: Das eigentlich durch seine Ölreserven reiche Land ist weiterhin pleite. Denn das haben Chatami und die Seinen deutlich bewiesen: Von Wirtschaft haben sie keine Ahnung.
Schwach im brutalen System
„Am liebsten wäre ich nicht hier, sondern an einem anderen Ort“, sagte Chatami unter Tränen, als er seine Kandidatur im Mai bekanntgab. Der nicht gerade für Kampfkraft sprechende Auftritt wurde vom iranischen Fernsehen übertragen. Zuvor hatte der Präsident mehrmals angedeutet, notfalls werde er die Politik aufgeben und sich wieder in die Kultur zurückziehen.
Viele IranerInnen bezweifeln, dass der Präsident stark genug ist, um in der verworrenen und extrem brutalen iranischen Politik zu überleben, geschweige denn sich durchzusetzen. Manche halten Chatami gar vor, er sei nur ein moderates Aushängeschild, ein Alibi für ein nicht reformierbares System. Sollte er bei der heutigen Wahl nur ein schwaches Mandat bekommen, wird er seine Vorstellungen von der Reformierbarkeit der Islamischen Republik noch weniger durchsetzen können als bisher. „Die Konservativen wissen, dass sie keinen eigenen Kandidaten durchsetzen können. Deswegen müssen sie Chatami für sich instrumentalisieren“, meint ein westlicher Diplomat in Teheran.
Irans Bevölkerung dürfte auf ihre Weise darauf reagieren. Die klassische Variante lautet: Rückzug in das Private. Partys hinter hohen Mauern, über die kein neugieriger Nachbar schauen kann, und eine hinter Vorhängen versteckte Satellitenschüssel. Ähnlich war das zu Zeiten des Schahs. Das Feld der Politik wurde wenigen überlassen. Der Rest interessierte sich nur für das eigene Wohlergehen: Spaßgesellschaft auf Persisch.
Doch inzwischen hat sich die iranische Gesellschaft gründlich geändert. Mehr als die Hälfte der BürgerInnen der Islamischen Republik sind jünger als 30, die Revolution vor 22 Jahren haben sie nicht oder nicht bewusst erlebt. Ihr Feind ist nicht mehr ein vom Westen skrupellos unterstützter Diktator, sondern sind die derzeit Herrschenden. Wahlberechtigt sind alle ab dem 16. Lebensjahr.
Irans Gesellschaft ist gespalten. Die Alten sind durch Religion und die Islamische Revolution geprägt, die Jungen durch MTV. Dank Satellitenfernsehen und Internet wissen sie, wie Menschen anderswo leben. Um das zu verhindern, wurden in den letzten Wochen in Teheran hunderte Internetcafés zwangsweise geschlossen. Ein hilfloser Schritt. Denn die Zahl der privaten User steigt seither, und zahlreiche Elektronikgeschäfte bieten den begehrten Zugang zum Netz.
„Technologisch leben wir längst im 21. Jahrhundert, aber politisch noch im Mittelalter“, meint ein Jugendlicher. Chatami sei nur ein Übergangspräsident auf dem Weg in eine neue Zeit. Dieser Übergang vollziehe sich viel zu langsam. Doch die einzige Alternative sei das, wovor die meisten IranerInnen aufgrund ihrer Erfahrungen Angst hätten: „eine neue Revolution oder ein Bürgerkrieg“. Und niemand wisse, ob es danach wirklich besser werde.
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