Wilmersdorfer Witwenwunder

Sex auf den Besucherbänken der Vernissagen dieser Stadt: Sigrun Casper wohnt an Orten der Ordentlichkeit und schreibt erotische Romane gegen die Grenzen klassischen sexuellen Rollenverhaltens. Denn das Warten auf den starken Prinzen auf weißem Ross dauert ein Stück zu lang. Ein Porträt

von JANA SITTNICK

Sigrun Casper sitzt am Küchentisch in ihrer Wohnung, raucht Mentholzigaretten und sagt, dass sie lieber Tom Wolfe lese als Thomas Mann. Der erzähle mit Leichtigkeit, „Geschichten von Menschen und vom Land“. Um den Küchentisch herum stehen bunt bemalte Stühle, darauf eine Schale mit Keksen und Tassen mit Kaffee. Sigrun Casper trägt einen grünen Pullover zum braunen halblangen Haar, in der Hand hält sie eine lange braune Zigarette, ihr Mund ist rot geschminkt.

„Ich bin eine „Wilmersdorfer Witwe“, sagt die Zweiundsechzigjährige lachend und meint die Güntzelstraße, in der sie seit 1967 wohnt. Saubere Gehsteige gibt es hier, niedliche Geschäfte und nette Leute, die grüßen. Casper amüsiert sich über die kleine Bürgerwelt, die ein Teil von ihr ist: „Als mein jüngerer Sohn seine Punk-Phase hatte, mit Ketten, Lederkluft und Iro, und wir sonntags eingehakt spazieren gingen, haben die Leute blöd geguckt, aber nichts gesagt, wegen der Manieren.“

Sigrun Casper ist Schriftstellerin. In ihrem jüngsten Buch „Bleib Vogel“ schreibt sie gegen die Grenzen sexuellen Rollenverhaltens an, vielleicht rebelliert sie sogar. Doch das tut sie nicht laut. Jenes „Schaut her, ich befreie mich jetzt von langer Knechtschaft“-Gehabe älterer Feministinnen ist nicht ihre Sache. „Obwohl ich mich ohne die APO- und Frauenbewegung in den Siebzigern nicht so hätte entwickeln können, zu einem eigenen Leben. Aber das selbst auferlegte Schminkverbot und Verbrennen von BHs fand ich schon immer doof. Warum soll ich mich nicht hübsch machen?“

Sigrun Casper will sich selbst gefallen – und den Männern. Die Frauen in ihren Geschichten wollen das auch, sie sind attraktive, selbstbewusste Wesen, die sich ihre Portion Liebe holen, wenn sie sie brauchen, lange bevor der Prinz auf dem weißen Pferd daherkommt und sie wach küsst. Der romantischen Illusion ewiger Liebe wird nicht verfallen. Im Gegenteil: Da wird nicht lange gefackelt, wenn es um die Befriedigung weiblicher Grundbedürfnisse geht. Eine gelangweilte Kunstfreundin zum Beispiel entdeckt das Objekt ihrer Begierde auf einer Vernissage, umkreist den rot gelockten Unbekannten in stetig enger werdenden Bahnen und nimmt ihn schließlich auf der Besucherbank vor aller Augen durch.

Caspers erotische Geschichten führen Frauen als Akteurinnen zwischen Freiheits- und Glücksanspruch vor. Doch der zweifelnde Ton bleibt hörbar. Die Autorin wirft ihre Figuren nicht auf zu selbstgefälligen Abziehbildern des beziehungsfreien Singlemarktes. Sie lässt sie verstrickt, sehnsüchtig, hoffend. Als Interimsliebende treffen sie sich in zufälligen Zwischenräumen, und gehen schnell wieder auseinander. Das Flüchtige bestimmt die Dynamik ihres Erlebens. Mit klarer, schnörkelfreier Sprache legt Casper dieses flüchtige Begehren im Textkörper ihrer Geschichten frei. Die aparte, zierliche Autorin ist sich der „großen Liebe“ in der eigenen Geschichte gar nicht sicher. „Vielleicht habe ich noch nie geliebt,“ sagt sie und rührt in der Milchkaffeetasse, „ich weiß es nicht.“ Hieb- und stichfest dagegen ist ihre filmreife Fluchtgeschichte.

Als Zweiundzwanzigjährige ging Sigrun Casper am 30. Dezember 1961 mit einem falschen Schweizer Pass über den Checkpoint Charlie in den Westen. Ihr amerikanischer Freund, der in Westberlin Politologie studierte, hatte sich kurz nach dem Mauerbau einer Fluchthilfeorganisation angeschlossen und ihr die Papiere besorgt. Dazu Etiketten von Schweizer Modefirmen, die sie in ihre Kleider einnähte, „damit alles echt aussah“. Sigrun Casper, die im „VEB Berliner Linie“ Industrienäherin gelernt hatte und in einem Kunstgewerbeladen in Berlin-Mitte arbeitete, wollte nicht in der DDR studieren, wegen der „vormilitärischen Ausbildung“. Sie wollte weg.

In Westberlin bekam sie einen Kleidergutschein für C & A und fand einen Job an der Kuchentheke im KaDeWe. Mit dem „Lastenausgleichsstipendium“ für DDR-Flüchtlinge – „hundertachtzig Mark, damit war ich der Krösus“ – konnte sie 1962 ihr Kunststudium beginnen. 1982 las sie ihre erste Geschichte vor, „in einem besetzten Haus in Schöneberg. Da trafen wir uns jede Woche zur Schreibgruppe. Niemand von uns dachte daran, einmal Honorare für Lesungen zu kassieren.“

Sigrun Casper schreibt seit der Kindheit. „Ich war auf einem Ohr fast taub, sprach viel mit mir selbst, schaute, nahm die Dinge mit den Augen wahr und schrieb alles auf.“ Der Wunsch zu schreiben wäre immer da. Ihren Jugendroman „Gleich um die Ecke ist das Meer“ lässt die Autorin und frühere Sonderschulpädagogin in der Welt ihrer Schüler spielen. In „Handschrift eines Mordes“ erzählt Casper die Geschichte einer neurotischen Dreierbeziehung, die außer Kontrolle gerät. „Ich lasse das Ende einer Geschichte gern offen. Damit will ich den Leser nicht irritieren, das geht gar nicht. Ich kann nur meine eigenen Irritationen ausdrücken.“

Sigrun Casper: „Bleib Vogel“. Konkursbuch, Tübingen 2001, 190 S., 29,80 DM