Nach meene Beene...

■ Von Lastern, Männern und Chaoten im Berlin der Zwanziger Jahre: Die Chansonette Anika Mauer im Schauspielhaus

Was muss das für ein Ego-Schub sein, zu wissen: „Nach meene Beene is ja janz Berlin varückt.“ Vor allem, weil „Berlin is ja so jroß“, da gibt es viele Frauen mit schönen Beinen. Liesken Puderbein, kiezgeboren, leicht hysterisch und selbsternannter Vamp ist ein furchtbar lasterhaftes Weib. Sieben Männer hat sie schon ins Grab gebracht, sie säuft, kokst und raucht starke Zigarillos. „Ich schlaf im Bett der Pompadour, ich habe Salomes Figur“, bekennt sie mit verschmitztem Lächeln. Dann aggressiver: „Ich saug die Männer an und aus und mache Frikassee daraus.“ Sie ist ja so verrucht.

Es ist nicht mehr Anika Mauer, die auf der Bühne im Schauspielhaus Chansons aus dem Berlin der Zwanziger Jahre singt. Im schwarzen Kleidchen, begleitet von Dietmar Loeffler am Piano. Nein. Schon anfangs, als sie mit der Ka De We-Tüte in der Hand mit großen Schritten auf die Bühne kommt, ist es Liesken Puderbein, die Berliner Gassengöre. Und sie beginnt zu singen, mit hochgezogenen Schultern und verschüchterten Augen. Mit viel Gefühl im Stimmchen erzählt sie von den Männern, die ihr nachsteigen und dass sie aber nie, niemals würde sie, nein, also sie würde immer nur bei der „Ouvertüre“ bleiben.

Schon eine halbe Stunde später glaubt ihr das niemand mehr. Keiner glaubt mehr, dass sie wirklich aus einem Hühnerei am Ende der Welt gekrochen ist, keine Ahnung vom Leben hat und ihr größter Traum ist, einmal beim Ballet zu sein. Eine halbe Stunde später steht sie nämlich, aufs Piano gestützt, mit weißem Pulver auf dem Kleidchen, verruchtem Blick und grölt lautstark: „Was wittern da so lüstern meine Nüstern? Was bin ich für ein perverses Aas, wilder Sinne gieriger Fraß.“ Die Augen quellen hervor und sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Kleptomanin ist sie auch noch. Das ist weißgott nicht mehr die liebliche Chansonette Anika Mauer, die ganz viel Brecht vertont. Alle wissen jetzt, warum dieser Liederabend „Opium fürs Volk“ heißt.

Liesken singt zwischen ihren Ego-Trips von den kleine Eigenheiten der Berliner. Von Mutter Beimlein zum Beispiel, die an einem Nagel in ihrem Holzbein den Wohnungsschlüssel aufbewahrt. Von der Gesellschaft an sich, deren Oberflächlichkeit und dem Drang zum Scheiße-Brüllen. Sie ist kritisch gegenüber allem und jedem, wobei sie sich durchaus ihrer eigenen Fehltritte bewusst ist. „Wer heut noch nicht verrückt ist, der ist nicht ganz normal.“ Vielleicht hat sie sogar recht damit. Anika Mauer ist eine Zauberin. Es ist nicht allein, dass sie auf der Bühne untrennbar mit der Person Liesken Puderbein verschmilzt. Sie schlüpft in tausende von Rollen, von der verschüchterten Fünzehnjährigen bis zum männermordenden Vamp. Sie grölt und rotzt die Possen hin, dann wieder haucht sie ein Wiegenlied, legt die Sehnsucht der ganzen Menschheit in ihre Stimme. Sie sinniert in sanft-rauchigem Ton: „Vielleicht bleibt dieser Mond einst voll und wechselt nicht mehr.“ Dann plärrt und schreit sie Brechts „Ballade von den Seeräubern“ in die Welt hinaus, als wäre diese schwerhörig und müsste wachgerüttelt werden. „Später bleibt vom Wagen nicht einmal die Wagenspur“, sagt sie nachdenklich. Das mag bei den meisten Wägen stimmen, nicht aber bei „Opium fürs Volk“. Anika Mauer hat – auch wenn man sich streiten kann, ob nach ihre Beene wirklich „janz Berlin varückt“ ist – beeindruckende Wagenspuren hinterlassen. Susanne Polig

Eine letzte Möglichkeit gibt es noch für alle Chanson-Begeisterten, sich Anika Mauer in Form von Liesken Puderbein anzusehen: Am 24. Juni um 20 Uhr grölt sie wieder Lieder von Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Otto Reuter und vielen Anderen.