Der Neue von Nike

Der mit der Superairsohle: Was das Tragen von orthopädischen Schuhen für Probleme mit sich bringt

von STEPHAN ZEISIG

Meine orthopädischen Schuhe bereiten mir so einige Liebesmüh. Da ist zunächst ihr Äußeres, das den ästhetischen Anforderungen der postmaterialistischen bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft nicht wirklich gerecht wird. Oder wissenschaftlich formuliert: Sie sehen scheiße aus. Aber das lässt sich ja immerhin noch kaschieren. Ich kaufe mir einfach Schlaghosen, die lang genug sind und deren Schlag groß genug, um die Schuhe zu überdecken. Dazu ist es aber immer noch nötig, dass meine Mutter noch zwei Meter Stoff einnäht. Das gemahnt dann zwar mehr an Schaufeln von Baggerfahrzeugen, ist aber erträglicher als das Elend, das sich darunter verbirgt.

Doch das ist nicht das einzige Problem. Meine orthopädischen Schuhe haben zusätzlich noch ein unverkennbares Geräusch oder, genauer, mindestens zwei: Dort, wo kein Teppich liegt, äußert es sich so, als laufe ich mit bis oben mit Wasser gefüllten Gummistiefeln über eine von einer dünnen Moderschicht überzogene Silikonfläche. Das mag eine sehr plakativ-reißerische Beschreibung sein, allerdings ist sie hier angebracht, wofür all die bürgen, die diesen Lärm schon ertragen mussten. Dort, wo Teppich liegt, produzieren sie ein Geräusch, als stiefele ich durch noch frischen Schnee, aber solchen, der so knarzt, knarrt und quietscht, dass es keine Freude mehr ist.

Dies kann für mich sehr unangenehm sein, besonders dort, wo es keine weiteren Lärmverursacher gibt, wie im Lesesaal meiner Uni-Bibliothek, die hofft, mit ihrem Teppich von ihrem sehr übersichtlichen Bücherbestand ablenken zu können. Wenn ich bei jedem Schritt ritsch, ratsch, knarr, knarz, quietsch mache, ist mir die ungeteilte Aufmerksamkeit der anwesenden Studenten gewiss. Ich habe zwar grundsätzlich nichts gegen die ungeteilte Aufmerksamkeit anwesender Studenten, jedoch nicht unbedingt wegen dem Konzert, das meine Schuhe veranstalten.

Dies brachte sich mir jedes Mal wieder in Erinnerung, wenn ich die ersten Schritte in die Bibliothek gemacht hatte. Drei Strategien hatte ich daher bisher ausprobiert, um mich nicht allzu peinlich fühlen zu müssen. Die erste Strategie hieß, sich einfach nicht zu bewegen, also keinen Schritt zu machen. In diesem Fall brauchte man allerdings jemanden, der einem unter die Arme griff: „Äh . . . ’tschuldigung! Könntest du mir vielleicht mal das Buch ‚Einführung in die romanische Sprachwissenschaft‘ von Geckeler/Dietrich holen? Steht unter ID 1275 GECK.“

Spätestens bei der Bitte, doch mal in der Zeitschriftendatenbank zu recherchieren, was es so zum „handlungsorientierten Unterrichtseinstieg gibt“, musste ich nicht selten all meine Motivationskünste in die Waagschale werfen, um noch jemanden zu überzeugen, dass er mir das ruhig mal abnehmen könne. Oft sprangen hier selbst die leidenschaftlichsten Altruisten ab. Eine zweite Möglichkeit war es, zu rennen. Beim Rennen waren meine Schuhe ruhiger. Allerdings ergab das auf die Dauer auch kein cooles Bild. „Warum rennt der nur?“ haben sich sicherlich schon viele gefragt, als sie mich zwischen den Regalen hin- und herflitzen sahen. Hatte ich noch jemanden bei mir, bestand ferner das Problem, dass der meistens nicht mitrennen wollte. Mit meiner letzten Strategie wandelte ich das Schuhgeräusch in einen Vorteil um.

Gehe ich nämlich heute an den Bankreihen mit den lesenden, büffelnden und brütenden Studenten vorbei, die bei dem Lärm verwundert von ihren Büchern aufschauen, deute ich selbstbewusst auf meine Schuhe und rufe laut: „Das ist der Neue!“ Ich lasse aber offen, welcher Neue. Das klingt geheimnisvoll, aufregend und macht Appetit. Sie vermuten dann nämlich, ich hätte einen ganz besonders angesehenen Schuh. Einmal hat mich ein Sportstudent dann auch angequatscht: „Welcher Neue denn?“

„Der neue Nike!“ Ich hob meine Hose ein bisschen. „Ist mit der neuen Superairsohle. Das gute daran ist, die sieht man jetzt nicht mehr, sondern hört man nur noch. Dadurch läuft man noch schneller.“ Der Sportstudent wunderte sich über das fehlende Nike-Zeichen. Ich entgegnete, das sei ja die Crux. Der Schuh sehe nicht nach Nike aus, sondern wie ein orthopädischer Schuh. Aus diesem Grund würden einen die sportlichen Konkurrenten unterschätzen. Bisher sei ich weltweit der Einzige damit. Daraufhin wollte er den Schuh auch haben. Ich tat so, als täte ich ihm einen großen Gefallen, und gab ihm die Adresse von Herrn Klinke, meinem orthopädischen Schuhmacher.