Vernetzte Momente

Von der Naturbetrachtung zur Reflexion und zurück: In Philippe Jaccottets Band „Antworten am Wegrand“ stehen sich Prosatexte und Gedichte gegenüber

Quer durch die Literatur wurden immer wieder Verse in einen Prosatext eingeschaltet. Bei Cervantes’ „Don Quixote“, waren es Sonette, in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ Lieder, und auch in der Romantik war das Verfahren weit verbreitet. Heute ist dieses wichtige und schöne Mittel selten geworden, eher gibt man bei neuer Literatur Gedichte und Prosa getrennt heraus.

Der Schweizer Philippe Jaccottet, geboren 1925, hat sich nun in diese Traditionslinie gestellt und ein Buch geschrieben, in dem Gedichte im freien Vers und Prosa aufeinander folgen: „Antworten am Wegrand“. Handlungsort der Texte ist meist die Natur Südfrankreichs, wo er lebt, oft die Bergwelt.

Jaccottet schreibt in einer Art, wo das Lyrische und das Prosaische wie von selbst nahe beieinander liegen. Dies wird deutlich bei dem Bild einer abendlichen Landschaft, in dem die Prosa zum Gedicht tendiert. Die Sonne ist schon untergegangen, aber noch ist es hell. Jaccottet steht vor einem fruchtbehangenen Kirschbaum, von dem ein eigentümliches Leuchten ausgeht. „Es ist auch eine Stunde, in der dieses überlebende Licht, denn seine Quelle ist nicht mehr sichtbar, aus dem Innern der Dinge zu strahlen und vom Boden aufzusteigen scheint.“ Da ist eine seltsame Stimmung festgehalten, die Ruhe der Nacht ist noch nicht da, und die Geräusche des Tages sind noch nicht ganz verstummt. In dem Zwischenzustand sind die Farben zwar sehr präsent, aber durch die heraufziehende Dunkelheit beginnen sie zusammenzufließen wie das Rot der Kirschen und das Grün der Blätter. Das Konträre hebt sich auf. Von der Naturbetrachtung wechselt Jaccottet zur Reflexion darüber, ob es einmal eine Zeit gegeben habe, in der das Gegensätzliche nicht die Welt bestimmt hatte und die Dinge „miteinander verbunden waren“. Das Licht, das er sah, war ihm wie ein Abglanz davon.

In Jaccottets Sprache herrscht ein flüchtiger, leicht gewebter Ton und erinnert somit an eine vorüberziehende Jahreszeit oder an einen Tagesanbruch, Sujets, die durchgängig auftauchen, auch in seinen anderen Büchern. Das japanische Haiku hat häufig den Wandel und Übergang in der Natur zum Thema, was auch Jaccottets Interesse ist. Manchmal nähert er sich dieser Dichtung an. In dem Buch „Fliegende Saat“ hat er sogar einige japanische Kurzgedichte in seine Prosa verwoben.

In den „Antworten am Wegrand“ wechseln sich Gedichte, Prosa und Miniaturen ab. Innerhalb der einzelnen Kapitel stellt sich ein Bezug zwischen den Texten her, aber sie können auch über ein Kapitel hinweg verknüpft sein, wie es bei einem Gedicht der Fall ist, von dem hier die ersten drei und die letzten zwei Zeilen zitiert seien: „Zu viele Sterne in diesem Sommer, Meister und Herr, / zu viele niedergedrückte Freunde, / zu viele Rätsel. / [. . .] Zur Antwort am Wegrand: / Kreuzkraut, Wegwarte, Bärenwurz.“

Weitere Texte, die nichts mit dem Gedicht zu tun haben, folgen, und dann geschieht etwas, was für ein Gedicht normalerweise eine schwierige Sache ist: Der Autor erklärt es zum Teil. Von einem Freund, der im Sterben liegt, ist die Rede und von den Blumen als der „einzige[n] Antwort auf das Grauen“. Diese Art des Sicherklärens aber entzaubert hier das Gedicht nicht; dem Prosatext steht das Gedicht gegenüber, mit einem Zugriff auf das Geschehen, wie es auf dem Wege der ungebundenen Sprache nicht zu erreichen ist. Jaccottet schafft mit dieser Art der Vernetzung, dass man während des Lesens der „Erklärung“ zum Gedicht zurückblättert, was das sonst übliche strenge Nacheinander eines Textes aufhebt.

KRISCHAN SCHROTH

Philippe Jaccottet: „Antworten am Wegrand“. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.Hanser Verlag, München 2001,80 Seiten, 25 DM