Kalkuliertes Risiko

Der neue Pariser Bürgermeister Delanoë sprach vor dem Wahlkampf über seine Homosexualität. Danach mied er das Thema konsequent

Bertrand Delanoë ist der erste bekennende Schwule an der Spitze einer europäischen Großstadt. Aber als Vorreiter der Schwulenbewegung oder als ihr Fürsprecher versteht sich der Sozialdemokrat, der am 18. März dieses Jahres in das Rathaus von Paris gewählt wurde, nicht. „Delanoë ist Bürgermeister aller Pariser“, sagen seine Mitarbeiter, „er vertritt nicht die Interessen einer Minderheit.“

Über seine Homosexualität, die im „tout Paris“ seit Jahren ein ebenso offenes Geheimnis war wie bei anderen rechten und linken französischen Politikern, hat Delanoë ein einziges Mal öffentlich gesprochen. Das war Ende 1998, lange vor dem Beginn des entscheidenden Kommunalwahlkampfs in Paris – und fernab seiner Partei. „Ja, natürlich bin ich homosexuell“, sagte der damalige Oppositionspolitiker damals in einem längeren Fernsehinterview. Er war der erste französische Spitzenpolitiker, der den Mut aufbrachte, so etwas öffentlich zu sagen. Dennoch ging er damals nur ein kalkuliertes politisches Risiko ein.

Zu jenem Zeitpunkt hatten die Parlamentarier nach einer langen und leidenschaftlichen öffentlichen Debatte gerade die „Schwulenehe“, PACS, in Kraft gesetzt. Sogar aus den konservativen Reihen hatte es Unterstützung für diese Reform gegeben. In der homosexuellen Bevölkerung war die Zustimmung zu der aus den Reihen der rot-rosa-grünen Regierung gekommenen Reform groß.

Delanoë bereitete sich bereits auf seine Kandidatur in der französischen Hauptstadt vor. Gegen einen noch unbekannten konservativen Kandidaten und gegen mindestens einen ernst zu nehmenden Konkurrenten aus den eigenen Reihen, der seit langen Jahren regelmäßig an der Pariser Schwulenstolzdemonstration teilnahm: Jack Lang. In Paris, immerhin eine jener europäischen Städte, in die Schwule aus der Provinz – und nicht nur aus der französischen – ziehen, um ein ungestörtes Leben zu führen, können solche Zeichen Wählerstimmen bringen. Die homosexuelle Bevölkerung der Stadt wird auf mindestens zehn Prozent geschätzt. In dem zentralen Stadtteil Marais, der direkt neben dem Rathaus liegt, weht die Schwulenfahne vor zahlreichen Geschäften und Bars.

Seit seinem Coming-out im Fernsehen hat Delanoë das Thema Homosexualität demonstrativ gemieden. Weder im Wahlkampf noch seit seinem Einzug in das Rathaus spielt es eine Rolle. Selbst die zahlreichen Aktivisten aus der Schwulenszene, die an der Freudenfeier vor dem Pariser am Wahlabend teilnahmen, betonten, dass sie Delanoë „aus politischen Gründen“ gewählt hätten. Die alte französische Regel, wonach das Privatleben von Politikern – und erst recht der sexuelle Teil davon – heilig ist, gilt auch für ihn. DOROTHEA HAHN