Der Popstar sagt ab

aus Berlin JENS KÖNIG

Gregor Gysi wird nicht Regierender Bürgermeister von Berlin.

Gleich noch mal: Gregor Gysi wird nicht Regierender Bürgermeister von Berlin.

Es gehört vielleicht zu den größten Erfolgen der PDS der vergangenen zehn Jahre, dass man diesen Satz mittlerweile zweimal hintereinander schreiben muss, damit er einigermaßen glaubwürdig klingt. Aber es ist so: Gregor Gysi wird nicht Regierender Bürgermeister von Berlin. Gysi wird die PDS nicht einmal als Spitzenkandidat in die Neuwahlen führen – trotz aller Hoffnungen der eigenen Partei, trotz aller guten Umfragewerte für einen möglichen Regierenden Bürgermeister Gysi, trotz aller Sympathie für seine Person bis ins bürgerliche Lager hinein. Mittlerweile räumen ja selbst viele aus der alten Westberliner Elite ein, dass Gysi unter den Bewerbern der einzige wäre, der die Statur, den Geist und den Charme hätte, Berlin als wirkliche Hauptstadt zu führen.

Gysi nicht mehr Anwalt der PDS, sondern Anwalt Berlins? Daraus wird nichts, und Gysi weiß das. Aber das Lob schmeichelt ihm so sehr, dass er sich noch ein paar Tage darin sonnen möchte. Spätestens zum Landesparteitag der PDS am Freitag wird er seine Absage bekannt geben. Bis dahin lächelt er, wenn er die Frage gestellt bekommt, ob er antritt – und schweigt.

Die Gründe für Gysis Absage an Berlin sind zunächst ganz handfeste. Eine Direktwahl des Regierenden Bürgermeisters, bei der Gysi sich gute Chancen ausrechnen würde? Sieht die Berliner Verfassung nicht vor. Ein von Gysi selbst vorgeschlagenes unabhängiges Personenbündnis an der Spitze der Stadt? Lehnen die Parteien ab. Die PDS stärker als die SPD? Daran glaubt nicht einmal Sahra Wagenknecht.

Also ein Kampf für Gysi mit ungewissem Ausgang? Darauf lässt er sich nicht ein. Nicht nach zehn Jahren Spießrutenlauf für seine Partei. Nicht jetzt, nach seinem spektakulären Rücktritt vor einem Jahr. Nicht in Berlin, das ohne einen Bürgermeister Gysi in seinen Augen doch nur Provinz bliebe.

Gysi ist ein Popstar. Er will geliebt werden. Er will den großen Auftritt. Natürlich kann Gysi kämpfen, aber er möchte es zu seinen Bedingungen. Neben sich duldet er nur andere Popstars. Schröder – das ist sein Kaliber. Aber doch nicht Wowereit. „Ich habe keine Lust auf normale Zeiten“, sagt Gysi ganz ungeniert mit Blick auf Berlin. „In normalen Zeiten müssen dann eben auch normale Leute ran.“

Gysi ist kein normaler Politiker. In seinem tiefsten Innern ist er gar kein Politiker. Ihm fehlt die Ausdauer, die Demut vor dem Amt, die Härte, die Mittelmäßigkeit. Gysi ist intelligent. Er langweilt sich schnell.

Aufgefressen von der Politik

Der Anwalt ist 1989 in einer historischen Ausnahmesituation in die Politik geraten. Er war ein Glücksfall für seine Partei. Er hat sie gerettet und dann zehn Jahre lang geprägt. Aber Gysi hat auch zehn Jahre lang an der Politik gelitten. Sie hat ihn aufgefressen und oft einsam werden lassen. „In der Politik gibst du die Souveränität über dich auf“, sagt er, „du verfügst nicht mehr über dich: nicht über dein öffentliches Bild, nicht über dein Image, nicht über deine Zeit.“

Gysi war über die zehn Jahre hinweg Parteichef, Fraktionsvorsitzender, Vorstandsmitglied. Im Sommer vorigen Jahres nahm er von der Politik Abschied. Er nannte es eine Lebensentscheidung.

Und da soll er jetzt das Risiko eingehen, als Regierenden Bürgermeister anzutreten, um als kleiner Fraktionsvorsitzender zu enden? „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich den Fraktionsvorsitz im Bundestag abgegeben habe, um den Fraktionsvorsitz im Berliner Landesparlament zu übernehmen“, sagt Gysi offen. Oder vielleicht Kultursenator? „Mich interessieren vor allem Visionen für Berlin, ich bin kein Mann des Apparats“, räumt er ein. „Aber für Visionen ist nun mal der Regierende Bürgermeister zuständig und kein anderer.“

Hat der Popstar etwa Angst? Angst davor, dass seine Bühne vielleicht zu groß und schillernd ist für die kleine, harte Show, die in der Hauptstadt jetzt gefragt ist? Aber warum hat er sich dann erst in diese missliche Lage gebracht? Warum hat er mit dem Job des Regierenden Bürgermeisters kokettiert, sagt jetzt ab und handelt sich damit den Vorwurf ein, die Verantwortung abzulehnen, wenn es ernst wird?

Vielleicht ist das ja die entscheidende Frage an Gysi. Und die Antwort darauf lautet: Gysi weiß nicht, was er will. Er hat ein Problem mit sich selbst, vor allem mit seiner öffentlichen Rolle. „Gysi nach Gysi – das ist auch für Gysi ein Problem“, sagt Roland Claus, Fraktionschef der PDS im Bundestag.

Als Gysi seinen Fraktionsvorsitz niederlegte, hatte er Pläne: Der 53-Jährige wollte wieder als Anwalt arbeiten, mehr Zeit für seine Familie haben, vielleicht eine Fernsehtalkshow machen und der Politik irgendwie verbunden bleiben. Im September steigt Gysi in Berlin-Charlottenburg in eine Anwaltssozietät ein. Das ist das einzige, was er bisher geschafft hat. Alles andere ist unklar. Vielleicht will Gysi einfach nicht so enden wie sein Freund Oskar Lafontaine: als Politik-Rentner, der ab und zu mal einen Bild-Kommentar schreiben darf.

Gysi schwankt. Seine Partei ist ihm dadurch noch fremder geworden, als sie ihm ohnehin oft war. Der einstige Partei- und Fraktionschef spürt, dass es in der PDS auch ohne ihn läuft – das kränkt ihn. Er glaubt, unersetzbar zu sein. Gysi sieht aber auch, dass es ohne ihn anders läuft, langsamer, biederer. Es fehlt sein Glanz. Nach außen gibt sich Gysi loyal, aber Genossen, die ihn gut kennen, wissen, dass er von seiner Partei mittlerweile die Nase voll hat. Sie langweile ihn, sagen sie. Viele Parteifreunde merken das und lassen es Gysi spüren. Plötzlich geht es dem großen Zampano der PDS wie einst Helmut Kohl: Er wird kritisiert und empfindet das als groben Undank.

Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch, nach wie vor einer seiner engsten Vertrauten, sieht den Grund für den gegenseitigen Frust in Gysis Ausnahmestellung. „So einen wie ihn gibt es nur alle fünfzig Jahre“, sagt Bartsch. „Der war doch in der PDS bis zu seinem Abgang fast ein Heiliger. Wenn er gesagt hat, die Sonne geht am Abend auf und am Morgen unter, dann hat er dafür eine Mehrheit bekommen. Das wollen ihm heute einige zurückzahlen.“

Auch das Verhältnis zu seinen Nachfolgern ist zerrüttet, erst recht nach einem Gespräch des Bundeskanzlers mit der PDS-Spitze Mitte Mai. Schröder bot der PDS für deren Zustimmung im Bundesrat zur Rentenreform Zugeständnisse bei den Ostrenten an. Zur Überraschung des Kanzlers begannen die Genossen von der PDS sich vor seinen Augen plötzlich zu streiten. Auf der einen Seite Gysi und der Schweriner Arbeitsminister Helmut Holter – sie hätten das Angebot des Kanzlers gerne angenommen. Auf der anderen Seite Parteichefin Gabi Zimmer und Fraktionschef Roland Claus – sie hielten strikt an der vorher vereinbarten Linie fest und gaben Schröder in der Rentenfrage einen Korb.

Claus, der aufgrund seiner Nähe zu Gysi schon mal als „Anwalts Liebling“ verspottet wurde, war hinterher stinksauer. Er warf Gysi unsolidarisches Verhalten vor. Im kleinen Kreis gab er völlig entnervt zu, Gysi habe ihn schwer getroffen. Seitdem bereden der Fraktionschef und sein Nachfolger nur noch das Nötigste. Gysi schrieb Claus und Zimmer nach dem Schröder-Treffen einen Brief, in dem er darauf beharrte, dass die PDS im Rentenstreit falsch gehandelt hätte. Er bot den beiden eine Aussprache an. Claus und Zimmer schrieben kühl zurück, sie würden auf Gysi zukommen. Das Gespräch fand bis heute nicht statt.

Genossen aus Gysis Umfeld beobachten bei ihm eine Stimmung wie kurz vor dem Parteitag in Münster. Dort gab Gysi völlig frustriert bekannt, nicht wieder für das Amt des Fraktionsvorsitzenden zu kandidieren. Das stürzte die PDS in heillose Verwirrung. Jetzt werde Gysi nicht nur Berlin eine Absage erteilen, heißt es. Er werde wahrscheinlich auch nicht dem Wunsch seiner Partei nachkommen, 2002 noch einmal für den Bundestag zu kandidieren.

Eine Rolle für sich selbst

Die Wahlkampf-Lokomotive der PDS würde Gysi durchaus noch mal spielen. Er weiß, wie wichtig er für seine Partei ist, um die Fünfprozenthürde zu überspringen oder ein Direktmandat in Berlin zu erringen. Aber keiner kann ihm erklären, was er dann vier Jahre im Bundestag machen soll. In irgendeinem Ausschuss versauern? „Eines ist klar“, räumt der Bundesgeschäftsführer ein, „einen einfachen Abgeordneten Gregor Gysi wird es nicht geben.“ Was dann? Gysi als eine Art sozialistischer Genscher – eine anerkannte Autorität, die am Ende Piloten-Streiks schlichtet?

Die PDS-Ikone sucht nach einer Rolle für sich selbst, und die Partei sucht mit. Lothar Bisky, der ehemalige Parteichef, der Gysi besonders gut versteht, weil er genauso an der Selbstbezogenheit der PDS leidet, hat den Hauch einer Idee: „Gysi braucht eine große Wiese, auf der er sich austoben kann“, sagt Bisky, ohne zu wissen, wo diese Wiese wächst. Aber eines weiß er genau. „Gysi darf nie wieder in ein Amt gezwängt werden.“