Gesprühte Utopien

Plastische Bildhaftigkeit aus São Paulo: „Os Gemeos“ bei der Graffiti-Ausstellung am Stephansplatz  ■ Von Anna von Villiez

„Graffiti ist eine Überraschung. Immer.“ So beschreibt Gustavo das Phänomen, das vor immerhin über 30 Jahren die Bewohner New Yorks verwirrte und sich virusartig über städtische Flächen und Nahverkehrszüge quer um den Globus verbreitete. Der Brasilianer und sein Zwilling Otavio stellen mit 19 anderen Sprühern bei der diesjährigen Hamburger Graffiti-Ausstellung „Urban Discipline“ ihre Arbeiten aus.

Os Gemeos, die Zwillinge aus dem Millionenmoloch São Paulo, dürfen sich die berühmtesten Sprüher Lateinamerikas nennen, und sie sind in einiger Hinsicht selbst eine Überraschung: Die 26-Jährigen kommen aus dem wenig betuchten Viertel Cambuci, in dessen Straßen die aus den Vereinigten Staaten herüberschwappende HipHop-Kultur Anfang der 80er Jahre schnell viele Nachahmer fand. Auch die Brüder erprobten sich zunächst im Breakdance, um wenig später zur Sprühdose zu greifen.

Inzwischen gehört das wortkarge Duo mit über 14 Jahren Lehrzeit zu den Veteranen der Szene und hat meisterhafte Virtuosität erreicht. Eine Kunstschule haben sie nie von innen gesehen, da waren auch die brasilianischen Studiengebühren zu teuer. So ist gerade der ausdrucksstarke Stil ihrer Figuren, Traumszenarien und Buchstabenkompositionen so beeindruckend. Denn statt in die Falle zu tappen, durch immer ausgefeiltere technische Perfektion schließlich an ästhetischer Tiefe zu verlieren, haben sich Os Gemeos längst neuen Dimensionen geöffnet. „Auch vor HipHop gab es Wandbilder und Graffiti in Brasilien. Und Graffiti hat seine eigenen Formen entwickelt“. Die plastische Bildhaftigkeit der brasilianischen Sprühkunst hat ihre Wurzeln in der Not: Aus Kostengründen benutzten die Sprüher meist eine Mischtechnik aus Sprühdose und billigerer Anstreichfarbe.

Die Wandbilder von Os Gemeos zeigen teilweise traurige, liebenswert-lächerliche Figuren oder aber detailverliebte, märchenhafte Phantasiewelten. „Wir glauben an einen guten Ort, eine Welt, die wie ein Traum ist. Wir nennen diesen Ort Tritrez und manchmal malen wir etwas von dort“, sagen Os Gemeos über ihre Werke. Sie sind dazu vom Recht jedes Bürgers, die Wände seiner Stadt mit Farbe zu füllen, überzeugt.

Eine kleine Sensation ist, dass die Brüder nicht ohne Grund einen gemeinsamen Künstlernamen führen: Sie malen grundsätzlich nur gemeinsam und haben dabei einen charakteristischen Stil entwickelt, der nicht erahnen lässt, dass dahinter zwei Köpfe stecken. „Manchmal habe ich die Idee für ein Motiv, manchmal er“, sagt Otavio, „wir malen einfach drauf los.“ Geredet wird selten in der künstlerischen Symbiose.

In der Ausstellung im Rahmen der „Maximum HipHop“-Tage sind die Zwillinge am weitesten entfernt von der Graffiti-Ästhetik. Alle der 20 zum Teil herausragenden Künstler und Szenegrößen aus den USA (SUB), der Schweiz (TOAST, MATE, DARE), Fankreich (LAZOO), Österreich (KERAMIK, DISCOM) und Deutschland (DAIM, LOOMIT, SEAK, BESOK und andere), die in der alten Postsortierhalle ausstellen, sind seit mindestens zehn Jahren der Sprühdose verpflichtet und leben inzwischen von ihrer Kunst. Die Arbeiten zeigen eindrücklich, wie Graffiti sich seinen Platz in den Galerien erobert hat und heute die Sprühdose gegen Pinsel oder Bleistift oder Kamera eingetauscht wird. So gemischt die Techniken, so vielfältig sind auch die Wege der Künstler, Form und Inhalte der verschlungenen Buchstaben auf den Mauern durch Skulpturen, Installationen oder in Öl neu zu definieren.

Als Zugabe sind Fotografien von Martha Cooper zu sehen, die durch ihre Aufnahmen von den Graffiti-Anfängen in New York für das Kult gewordene Buch Subway Art gewissermaßen zur Hausfotografin der Bewegung wurde.

Organisiert hat die Ausstellung – wie in den vergangenen Jahren – die umtriebige Hamburger Graffitiagentur getting up, die jüngst auch das spektakuläre Graffiti-Großobjekt bei Blohm + Voss initiiert hat.

Alte Postsortierhalle am Stephansplatz, Gorch-Fock-Wall 1, noch bis Montag, 18. Juni, 12–21 Uhr, Eintritt: 8/6,50 DM,www.urbandiscipl-ine.de, www.getting-up.org