Schichten hinter der Geschichte

■ Christof Loy inszeniert „Pique Dame“ von Peter Tschaikowsky

„Entweder täusche ich mich völlig und in unverzeihlicher Weise, oder die Pique Dame ist in der Tat mein Meisterwerk“: das hielt der russische Komponist Peter Tschaikowsky von seiner erfolgreichsten Oper aus dem Jahr 1890. In dem Spielerdrama nach der gleichnamige Novelle von Alexander Puschkin (1834) geht es um den Offizier Hermann, der versucht, das Geheimnis immer siegender Karten zu lüften – und um viele andere. Wir sprachen mit Christof Loy über die vielschichtige Story.

taz: Sie haben in Ihren vielen Inszenierungen am Bremer Theater immer Psychoanalytisches und Gesellschaftskritisches herausgearbeitet, häufig auch einen Akzent auf das Geschlechterverhältnis gesetzt. Wie gehen Sie diesmal vor?

Christof Loy: Was den psychoanalytischen Ansatz angeht, ist dieses eines der komplexesten Stücke, die es überhaupt gibt. Puschkin versucht, zu entschlüsseln, wie extremes Verhalten hervorgerufen werden kann. Hermann und Lisa handeln vollkommen obsessiv. Hermann ist als deutschstämmiger Offizier in Russland ein übersensibler Außenseiter, der alles auf sich bezieht und unter der sozialen Kluft leidet. Er fühlt sich der Gräfin seelenverwandt, seine Bilder von Lisa und ihr verschwimmen.

Bei Puschkin landet Hermann im Irrenhaus und Lisa geht eine Vernunftehe ein. Bei Tschaikowsky machen beide Selbstmord.

Ich habe Tschaikowskys etwas melodramatisches Ende entschärft und mich dabei von Puschkin inspirieren lassen. Ich schicke Hermann nicht ins Irrenhaus, sondern er macht sich bei mir auf den Weg in ein neues Land des Bewusstseins und lässt alles, was ihn bewegt und bedrückt hat, hinter sich. Es geht um Menschen, die spüren, dass Mächte im Spiel sind, die sie verstehen wollen, aber nicht können.

Sind das Probleme, die wir heute noch verstehen?

Ja, sicher! Ich sprach ja am Anfang von der Komplexität des Stückes: diese Männergesellschaft, in der für Hermann kein Platz ist, die starke ältere Frauenfigur und der tragische Fall ihres Realitätsverlustes, der Frust und die Ängste der jungen Frau. Ich mag in diesem Stück so, wie die Personen voneinander abhängen, welch große Sehnsucht sie nach den anderen haben, sich aber ständig alle verpassen.

Tschaikowsky führt ja verschiedene, auch verwirrende Zeitebenen ein – zum Beispiel das Schäferspiel aus der Zeit Mozarts. Und er lässt das Stück ja auch nicht wie Puschkin im frühen 19., sondern im späten 18. Jahrhundert spielen.

In dem Schäferspiel lasse ich die echte Lisa auftreten und sie gibt als Rokokofrau Hermann den Schlüssel zu ihrem Zimmer. Das heißt doch, dass sie nicht mit dem ihr anverlobten Fürsten leben will, dies aber nur in der Verkleidung als Rokoko-Schäferin auszudrücken wagt.

Dazu muss ich kein realistisches Sittenbild Russlands um 1800 zeigen. Ich lasse die Oper in meiner Zeit spielen, aber das ist persönlich und poetisch zu verstehen, nicht als vordergründige Aktualisierung. Für mich ist eigentlich nur wichtig, dass eine Gesellschaft dargestellt wird, in die Hermann unbedingt hineinwill.

Der russische Regisseur Wsewolod Meyerhold hat viel Puschkin inszeniert. Er hatte fernab von Realismus oder Naturalismus revolutionäre Techniken, die Brecht ähnlich waren. Etwas, an das man anknüpfen kann?

Meyerholds Arbeit ist vorbildhaft in der Genauigkeit der Analyse. Und dann liebte ich sehr die Düsseldorfer Aufführung von Bohumil Herlischka, der großen Wert auf die dunklen Seiten dieser Oper gelegt hat. In dem Stück liegen so viele Geheimnisse verborgen, viele, viele Schichten hinter der Geschichte. Manchmal ist es ein Krimi, dann wieder ein Liebesdrama, oder es ist eine mystische Gruselstory.

Brauchen Sie für Ihre Ideen Gespräche mit den Dirigenten?

Nicht für meine Ideen, aber für die gemeinsame Umsetzung. In der Vorbereitung ist dieses Stück sehr stark in mir allein gewachsen, meine Vorstellungen von den Rollen. So musste ich zum Beispiel als Lisa ein ganz junges Mädchen haben, denn die Stärke ihrer Obsession speist sich aus ihrer Unerfahrenheit.

Die Bremer TheatergängerInnen kennen Sie nun seit vielen Jahren in vielen Inszenierungen. Würden Sie heute etwas anders machen?

In diesem Haus gibt es wunderbare Bedingungen. Ich bin souveräner geworden, kann ruhiger und analytischer zuschauen, kann den SängerInnen mehr Freiheit und Verantwortung geben. Dadurch wächst Energie.

Fragen: Ute Schalz-Laurenze

Premiere von Pique Dame ist am 16.6., 19.30 Uhr, im Theater am Goethplatz