: Leben in extremer Umwelt
Bakterien sind Anpassungskünstler. Ob in heißen Quellen oder in klirrender Kälte, sie sind fast überall zu finden. Zunehmendes Interesse besteht an den extremophilen Bakterien in der Industrie
von CLAUDIA BORCHARD-TUCH
Gibt es Leben in der Kälte des antarktischen Eises, in den Tiefen des Meeres, in heißen Quellen – oder sogar auf dem Mars? In den letzten Jahren haben die Wissenschaftler erstaunliche Entdeckungen gemacht: Es gelang ihnen, unzählige Überlebenskünstler zu finden – in heißen Quellen, scharfer Salzlauge, ätzenden Gewässern, 6.000 Meter unter dem Meeresspiegel oder in klirrender Kälte. Man nennt sie Extremophile – Wesen, die das Extreme lieben.
Die Ersten dieser Liebhaber des Extremen wurden von amerikanischen Wissenschaftlern Anfang der Siebzigerjahre im Yellowstone-Nationalpark in den USA aufgespürt. Dem Wissenschaftler Thomas Brock gelang es, Schwefelmikroben der Gattung Sulfolobus aus dem heißen Wasser der Geysire zu extrahieren. Diese Lebewesen wachsen erst in heißen Umgebungen um 60 bis 80 Grad. Sinkt die Temperatur unter 60 Grad, wird es ihnen zu kalt, und sie stellen jegliche Aktivität ein.
Vor kurzem entdeckte der Mikrobiologe Karl Otto Stetter von der Universität Regensburg den „Feuerlappen des Kamins“, ein Hitze liebendes – thermophiles – Bakterium, das alle bisherigen Rekorde bricht. Bei 113 Grad Celsius, 4.000 Meter tief in einem Heißwasserkamin des Atlantiksführt Pyrolobus fumarii ein „Leben wie im Schnellkopftoch“, so Stetter. Inzwischen sind 50 Arten von thermophilen Mikroben bekannt. Viele wurden erstmals von Stetter aufgespürt. Der Forscher verfügt über die größte Sammlung an Hitze liebenden Bakterien. Wie die Enzyme der Thermophilen die hohen Temperaturen meistern, ist bisher unklar. Normalerweise zerfallen und verklumpen Zellbestandteile bei 50 bis 60 Grad Celsius.
Leichter zu erklären ist die Widerstandsfähigkeit von Extremophilen, die in stark sauren Gewässern leben. Zum Schutz umgeben sich die Mikroben mit einer Zellhülle, die die aggressiven Säuren nicht in das Zellinnere dringen lässt. Andere Mikroben – die Halophilen – schaffen es, in einer salzigen Umgebung zu überleben. Weil Wasser dazu neigt, von Gebieten höherer Salzkonzentration zu Gebieten niedriger zu fließen, verliert eine Zelle in einer hoch konzentrierten Salzlösung so lange Wasser, bis ihr Zellinneres die gleiche Konzentration an Salz hat wie die Lösung – und dies bedeutet für normale Zellen den Tod. Halophile werden mit diesem Problem fertig, indem sie selbst große Mengen von Salzen produzieren und in ihrem Inneren aufbewahren.
Im Zusammenhang mit der Anpassung an extreme Bedingungen stellt sich die Frage, ob es außerirdisches Leben gibt. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht – viel höher, als früher vermutet. „Wir erleben derzeit einen spannenden Paradigmenwechsel“, erklärt Frank Drake, Professor für Astronomie und Astrophysik an der kalifornischen Universität in Santa Cruz. „Wir erkennen, dass sich das Leben an eine größere Vielfalt anzupassen vermag, als wir dachten“, so Drake, einer der Pioniere der Astrobiologie.
1999 gaben Nasa-Forscher erstmals bekannt, sie hätten Spuren außerirdischen Lebens entdeckt. Als Beweisstück präsentierten sie einen Meteoriten, der vom Mars stammte, durch das Weltall geflogen und 1911 in Ägypten vom Himmel gefallen war. In dem Stein fanden die Wissenschaftler versteinerte Überreste von Bakterien. Doch die Fachwelt reagierte skeptisch. „Es wird schwer sein zu beweisen, dass die Meteoriten nicht auf der Erde kontaminiert wurden“, erklärte der US-Geologe Ralph Harvey. Immerhin ist ein Tag auf dem Mars ziemlich unwirtlich. Er dauert eine halbe Stunde länger als auf der Erde. Zwar kann die Temperatur tagsüber auf angenehme 24[o] C steigen, aber nachts sinkt sie auf minus 80[o] C.
An den Polen des Mars formen sich im Winter Eiskappen, die aus gefrorenem Wasser und Kohlendioxid bestehen. Das bedeutet, dass es auf dem Mars Schlüsselsubstanzen des Lebens gibt: flüssiges Wasser und Kohlenstoff. Wie kein anderes Element ist Kohlenstoff fähig, seine Atome in praktisch unbegrenztem Maße zu Ketten und Ringen zu verbinden, als eine Art Stützgerüst für komplexe biochemische Strukturen. Bis zum heutigen Tag gelang es jedoch noch nicht, Leben auf dem Mars zu finden.
Vielleicht gibt es Leben an anderen Stellen des Weltalls. Vor einiger Zeit stieß die Raumsonde „Galileo“ auf eine mögliche Oase des Lebens – den Jupitermond Europa. Unter einer 15 Kilometer dicken Eiskruste, so die Berechnungen der US-Geologen, liegt wahrscheinlich ein rund 100 Kilometer tiefes Meer aus flüssigem Salzwasser. Aber wie ist das möglich? Weit draußen auf den Jupitermonden, die kaum von der Sonne gewärmt werden, beträgt die Höchsttemperatur eigentlich 130 Grad unter null. Wie kann es dort flüssiges Wasser geben? „Das war auch für uns eine dicke Überraschung“, erklärte Gerhard Neukum, Direktor des Berliner Instituts für Planetenerkundung. „Aber dann fiel uns ein, dass der Jupiter 300-mal schwerer ist als die Erde. Mit seiner gewaltigen Gezeitenkraft knetet der Gasriese seine Monde kräftig durch, dabei entsteht in deren Innern Reibungswärme.“
Kilometertief unter der eisigen Oberfläche des Jupitermondes könnten deshalb Wassertemperaturen wie in der Südsee herrschen. „Dieser Ort schreit danach, von uns erforscht zu werden“, meinte der an der „Galileo“-Mission beteiligte US-Planetenforscher Richard Terrile.
Bis heute weiß niemand, ob es irgendwo im All außerirdisches Leben gibt. Für die Existenz außerirdischen Lebens spricht das relativ junge Alter unseres Sonnensystems. Da das Universum mindestens viermal so alt ist, haben sich wahrscheinlich irgendwo in anderen Sonnensystemen Biosphären und Zivilisationen entwickelt – lange bevor unsere existiert haben. Und außerdem zeigen die Extremophilen, dass Leben unter weit schwierigeren Bedingungen möglich ist, als die Wissenschaftler es noch vor zwei Jahrzehnten vermutet haben.
Extremophile sind nicht nur für die Forschung von hohem Interesse, sondern auch für die Industrie. Besonders interessant sind die Enzyme der Extremophilen, die Biokatalysatoren. Denn wer in heißen Quellen überleben will, der muss Enzyme haben, die bei solchen Temperaturen funktionieren, und diese Fähigkeit kann Herstellungsprozesse in der Industrie vereinfachen. Die von Thermophilen produzierten Enzyme arbeiten bis zu Temperaturen von 130 Grad Celsius und werden auch bei Drucken von 4.000 Atmosphären nicht zerstört. Damit lassen sie sich bei Herstellungsverfahren einsetzen, die bei hohen Temperaturen ablaufen. Hierzu gehören zum Beispiel die Zellstoffproduktion oder die Synthese von Fructose. Für beide Verfahren sind zur Zeit mehrere Reaktionsschritte erforderlich, sie dauern verhältnismäßig lange und brauchen viel Energie. Der Einsatz thermophiler Bakterien könnte Verfahrensschritte ersparen, die Produktionszeit verkürzen, den Energiebedarf verringern und den Einsatz umweltgefährdender Stoffe überflüssig machen.
Auch Bakterien mit einer Vorliebe für Kälte sind von industrieller Bedeutung, da sie bei tiefen Temperaturen konserviert werden können; das macht sie für Lebensmittelfabriken und Parfümhersteller interessant. Salz liebende Bakterien können bei der Erdölförderung nutzbringend eingesetzt werden: Sie bauen bestimmte Hilfsstoffe ab, die bei der Bohrung eingesetzt werden, dadurch kann das Erdöl wieder dünnflüssig und damit förderfähig gemacht werden. Für die in saurem Milieu lebenden Mikroben interessiert sich die Waschmittelindustrie: Diese Extremophilen bilden nämlich Enzyme, die besonders gut Fette und Eiweiße lösen. Das sind nur einige der denkbaren Anwendungsmöglichkeiten von Extremophilen. Karl Otto Stetter ist Teilhaber der Firma Diversa in San Diego, die weltweit als Marktführer bei der Entdeckung und Herstellung von Enzymen und biologisch aktiven Substanzen aus in der Umwelt vorhandenem Material gilt. Seit der Gründung von Diversa im Jahre 1994 hat das Unternehmen die Struktur von fast tausend neuen Enzymen entschlüsselt. Braucht der Kunde eine Substanz, die zum Beispiel Fette bei hohen Temperaturen verarbeitet, sucht Diversa in seinem Substanzarchiv nach dem passenden Enzym.
Das Potenzial, das in den unbekannten Biomolekülen steckt, erscheint grenzenlos. Die Mehrheit der Organismen dieser Welt – nach Angaben von Diversa mehr als 99,9 Prozent – sind bis heute noch nicht kultiviert und damit unzureichend bekannt. Zukunftsforscher gehen davon aus, dass sich die Mikrobiologie zu einer der wichtigsten Wissenschaften im neuen Jahrhundert entwickeln wird. Wie in der Vergangenheit wird hierbei auch in Zukunft die Artenvielfalt der Entwicklungsländer genutzt werden. In vergangenen Zeiten musste die bittere Erfahrung gemacht werden, dass die Interessen der Entwicklungsländer zu wenig oder gar nicht berücksichtigt wurden. Es ist daher dringend erforderlich, dies für die Zukunft zu ändern, das heißt den Entwicklungsländern einen gerechten Anteil des Nutzens zukommen zulassen.
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