Viele Orte, überall

Vom Besetzen zum Etablieren und Integrieren: Schwule Räume verschwinden,eben weil sie nicht mehr verboten sind. Eine kleine Geschichte eines großen Paradoxes

von MICHAEL KASISKE

Zwei smarte Männer begegnen sich im Duschraum der Sporthalle, sagen gerade mal ein How do you do und werfen sodann die Klamotten vom Leib, um sich miteinander der fleischlichen Lust hinzugeben. Ähnliches geschieht beiläufig im Hinterzimmer der Autowerkstatt oder im Heuhaufen einer Scheune – allerdings nur in der fiktiven Welt der Pornos. Wenn auch die Fantasie von solchen Bildern angeregt wird, schwules Leben und seine Sexualität haben sich traditionell nicht in Haus und Garten entwickelt.

Inmitten des Stadtkörpers mit seinen Häusern, Straßen und Freiräumen gibt es ein nur für Schwule wahrnehmbares Netzwerk. Anhand einiger seiner Aktionsräume – öffentliche Parks oder Rastplätze sowie Bedürfnisanstalten und Pornokinos – lässt sich die Geschichte der Subcodierung durch eine Bevölkerungsgruppe nachvollziehen, die ihre Räume konspirativ innerhalb der städtischen Gesellschaften entwickeln musste. Denn Orte wie Kommunikationszentren, schwule Bars und Cafés konnten erst mit der Emanzipation nach 1969 als offensichtliche Bestandteile der Stadt in Erscheinung treten.

In der Entwicklung ihrer spezifischen Räume unterscheiden sich Schwule von Lesben, da sie sich diese innerhalb des Widerspruchs zwischen dem gesellschaftlichen Primat des Mannes und der öffentlichen Ächtung homosexueller Beziehungen zu Eigen machen mussten, wohingegen die Orte von Lesben häufig im häuslichen Bereich gepflegt werden konnten.

Seit der Anlage von Volksparks Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich städtische Grünräume zu Treffpunkten schwuler Männer entwickelt. Die Wohnungssituation allein stehender Arbeiter und Beamter als „möblierte Herren“ ließ es kaum zu, nähere Kontakte zum gleichen Geschlecht in den eigenen vier Wänden zu pflegen, ohne ungebetenes Aufsehen zu erregen. Parks sind nach allen Seiten offene Orte, in denen scheinbar unbeteiligt agiert werden kann. Im Gegensatz zum einst sozial kontrollierten Straßenraum war während des Cruisen – so der eingedeutschte Ausdruck für das Umherschweifen – Kontaktaufnahme möglich, ohne andere Spaziergänger Verdacht schöpfen zu lassen. Darüber hinaus war der Treffpunkt ausreichend anonym, um nach außen wie auch innerhalb der schwulen Subkultur nicht explizit homosexuell aufzutreten.

Unabhängig davon wurde der Park als sozialer Ort durch passive Beharrlichkeit verteidigt. Aus dem New York der Dreißigerjahre ist bekannt, dass Schwule den Polizeirazzien trotzten, selbstbewusst als Gruppe auftraten und bestimmte Bereiche des Central Parks dominierten. Der Begriff gay durfte jedoch nicht offen benutzt werden.

Die Codierung der Parks ist Bestandteil homosexueller Kultur. In seinem Entwurf „Clumbs of Trees“ zeigte der amerikanische Künstler Tony Clark durch schützende Baumgruppen dem homosexuellen Auge mit großer Eindeutigkeit, dass es sich um ein ideales Cruisinggebiet handelt. Heterosexuelle Menschen nehmen hingegen einen ganz gewöhnlichen Park wahr, der wie immer als heterosexuelle Spaziergängerdomäne gedacht ist.

Das gegenseitige Erkennen zweier Cruisender erfolgt über den Blick, der den Bruchteil einer Sekunde zu lang ist. Diese Art verborgenen Scannens, Folge des geheim gehaltenen Verlangens nach dem gleichen Geschlecht, ist ein Automatismus, der allerorten die Begegnung mit Männern in schwul und nichtschwul scheidet.

Der holländische Soziologe Maurice van Lieshout hat die ähnlich strukturierten Aktionszonen eines Autobahnrastplatzes akribisch untersucht. Schnell von den großen Städten zu erreichen, entwickelte sich der Rastplatz zu einem geschätzten Treffpunkt für diejenigen, auf die auch nach der Beseitigung gesetzlicher Repressionen die Tradition der Out-Door-Treffen den größeren Reiz ausübte. Im Dickicht verborgen, können Schwule ungestört agieren, denn Unbeteiligte bleiben abseits. Das Verbergen jeglicher Aktion dient auch dem Selbstschutz. „Schwule klatschen“ im Park ist kein neues Phänomen.

Bereits seit einigen Jahren hat die Berliner Polizei einen Ansprechpartner für gleichgeschlechtliche Lebensweisen benannt und damit der Tatsache Rechnung getragen, dass das homosexuelle Leben im Park Bestandteil gängiger Verhaltensweisen ist. Das heißt im Gegenzug jedoch auch Abschied nehmen von der Vorstellung, hier Subkultur zu betreiben, auch wenn die vermeintliche Illegalität erotisch reizvoll wirkte.

Anders als Parks und Rastplätze sind die als „Klappen“ bekannten Bedürfnisanstalten und Pornokinos Räume, die physisch umschlossen sind. Das Geschehen ist allerdings ebenso ephemer und erfordert eine gezielte Aufmerksamkeit für Gesten und Blicke.

Originär stehen Klappen allen Männern offen. Die Aneignung durch Schwule entstand durch den Druck, sich Raum für seine Aktivitäten zu nehmen. „Die Spielregeln an der Pinkelrinne sind einfach: Zugucken und gegebenenfalls zugreifen, fertig“, beschreibt der Journalist Micha Schulze das Procedere der Klappe, und erläutert: „Die sexuelle Freiheit ist streng reglementiert: Sprechen und Rumalbern sind auf der Klappe tabu, man unterhält sich nur mit Blicken und Gesten. Persönlich wird’s im Pissoir allenfalls hinterher.“

Wem die Klappe unangenehm war, der ging ins Pornokino, in dem Gay- und Heterokabinen nahe beieinander lagen. Wie bei der Klappe genießt der Besucher den Schutz von vier Wänden, bleibt jedoch in seiner Selbsteinschätzung als Schwuler offen. Die Hemmschwelle, ein Pornokino zu betreten, ist deutlich geringer, als etwa in eine Bar zu gehen, wodurch diese Stätten für viele zum Einstieg ins schwule Leben wurden.

Bis zu den Siebzigerjahren waren auch die Klappen nicht selten die Orte homosexueller Initiation, hatten sie sich doch zum geläufigsten Treffpunkt entwickelt. Mit der Parole „Raus aus den Klappen, in die Straßen!“, die die homosexuelle Befreiung in Deutschland einläutete, geriet dieser Ort ins Abseits des aufgeklärten Bewusstseins. Der Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, 1969 von Rosa von Praunheim gedreht, heißt eben auch „Das Glück in der Toilette“. Der Regisseur sagte damals: „Viele Schwule mit großen Kontaktschwierigkeiten sind gezwungen, auf den öffentlichen Toiletten ihre ersten homosexuellen Erfahrungen zu machen. Mit der Bestrafung der Homosexualität durch die Gesellschaft und dem daraus folgenden schlechten Gewissen der Schwulen haben viele ihr Schwulsein bis auf die einfachste Form von Sex beschränkt.“

Erst im letzten Jahrzehnt erlebte das Leben rund um die Pissrinne eine Renaissance, doch da begannen die Kommunen, die Klappen wegen der hohen Unterhaltskosten zu schließen. Das dudelnde Automatik-WC mit seiner heimeligen Atmosphäre mag für Homestories geeignet sein – wie zufällig dort herumlungern, das ist nicht mehr möglich. Die Künstler Jochen Klein und Thomas Eggerer protestierten 1994 in der Münchener Ausstellung „Oh boy it’s a girl“ gegen die Schließung der Klappen unter einer rot-grünen Stadtregierung. Zu dem Vorschlag der Kommunalpolitiker, in einer stark frequentierten Klappe ein schwules Café einzurichten, meinten Klein und Eggerer: „Die Bedeutung des Ortes als Schwulentreff würde zwar beibehalten, aber er wäre durch seine Institutionalisierung kontrollierbar gemacht und würde somit in entsexualisierter Form an die Schwulen zurückgegeben. Dieser Läuterungsprozess erinnert an die Christianisierung heidnischer Kultstätten.“

Die Wahrnehmung einer Stadt verändert sich, wenn die Orientierungslinien die Orte schwulen Lebens sind. Ein Plan, den sich der französische Semiologe Roland Barthes bei einem Berlinbesuch in den Fünfzigerjahren zur Orientierung skizzierte, zeigt den für schwule Etablissements bekannten Nollendorfplatz als Zentrum sowie einige wie Satelliten erscheinende Bars in Charlottenburg und Neukölln.

Läden namens „Toms“ oder „Spundloch“ werden auch von heterosexuellen Menschen inzwischen als schwule Treffpunkte erkannt. Doch auch wenn ein unbedarfter Besucher in Läden mit weniger Sinn stiftenden Namen wie „Wunderbar“ oder „Café Gnosa“ gerät, die Klientel wird sich keinen Augenblick in seinem Verhalten beirren lassen. Hier küssen sich Männer ohne Scheu.

Die Situation in den Bars vor der Liberalisierung des Paragraphen 175 war ungleich verhärmter. Das illustriert die in Amsterdamer Bars übliche „Eule“. Dieses Porzellanobjekt war als Verdunster für Parfüms gedacht, wurde in den schwulen Bars jedoch mit einer roten und einer grünen Lampe in den Augenhöhlen ausgestattet, die vom Einlass aus gesteuert wurden: Rot verhieß heterosexuelles Publikum oder Polizei und warnte die Besucher, nicht in flagranti bei einer Umarmung oder einem Kuss ertappt zu werden.

Wie wirkten dagegen in den Siebzigerjahren die ersten öffentlichen und nichtkommerziellen Zentren wie die Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW) mit ihrem Impetus, emanzipiert schwul aufzutreten. Die heute liebevoll „Bewegungsschwestern“ titulierten Aktivisten legten in alten Fabriketagen die Keimzelle nicht nur für gesellschaftlich präsente und finanzierte Räume für Schwule, sondern auch für die Erforschung der eigenen Geschichte; in dieser Atmosphäre entstand etwa das Schwule Museum in Berlin.

Zu Beginn der Neunzigerjahre formierte sich im Ostteil der Stadt eine Gruppe, die ein Lesben- und Schwulenhaus einrichten wollte, und zwar „in Erwägung der dringenden Notwendigkeit, die Emanzipation und soziale Integration homosexueller Bürger in unserer Stadt wirksam zu fördern“. Die Initiative verlief im Sande, doch der Berliner Architekt Ulrich Schop hat ihr immerhin mit seiner Diplomarbeit eine Vision geliefert. In der zukünftigen Hauptstadt Berlin schien es ihm geboten, eine lesbische und schwule Institution auch baulich zu manifestieren. Im Vorfeld recherchierte Schop einschlägige Institutionen im Ausland: So residiert das Cultuur- en Ontspanningscentrum COC in Amsterdam in einem ehemaligen sozialistischen Nachbarschaftsheim, die Behausung der Wiener „Rosa Lila Villa“ geht aus dem Namen hervor, in Stockholm kann der Riksförbundet för sexuellt likaberättigarde RFSL ebenfalls über ein ganzes Haus verfügen.

Für Berlin entwarf Schop ein Gebäude an der Jannowitzbrücke, in dem Kultur, Kommerz, Sport, Freizeitgestaltung, Verwaltung sowie Wohnen angesiedelt sein sollten. Der Anspruch zielte in Richtung eines „Melting Pot“, in dem Schwule und Lesben unterschiedlichster Herkunft wie etwa im schwulen Sportverein zusammentreffen. Bei Letzteren kam Schop dann doch noch zum Zuge, indem er den Umbau der Geschäftsstelle in der Naumannstraße entwarf.

Die kommerziellen Bars und Clubs haben sich zuweilen ungewöhnlich restriktiv einer bestimmten Klientel verschrieben, die sich äußerlich in Kleidung und Benehmen unterscheidet. Erdfarbene Kleidung ruft in einem Lederschuppen gleiches Entsetzen hervor wie eine Bundeswehruniform in der Cocktailbar. Die innere Zonierung ist aber fast immer gleich: Die vorderen Räume sind einem Laufsteg ähnlich, von dem aus der Neuankömmling sich einen Überblick verschaffen kann, bevor er den Raum zum Rumstehen erreicht. Dann der Darkroom: schwarz gestrichene Räume, in denen kleine Funzeln für eine schummerige Atmosphäre sorgen. Nach einer Weile hat sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt und kann die anderen Anwesenden nach den Umrissen unterscheiden. „Ich lieb es anonym, wenn zwei sich gut versteh’n“, singt das Duo Rosenstolz treffend. Dieser Raum reizt zur ungehemmten Interaktion. Als Ausdruck glückseliger Momente trägt ein Bild des Fotografen Wolfgang Tillmans aus dem Kölner Lederlokal „Stiefelknecht“ wohl auch den Titel „Arkadia“; im Werk des Künstlers wird die schwule Szene in den Neunzigerjahren aus persönlicher Sicht reflektiert.

Letztlich möchte man sich als Schwuler ungehemmt zu erkennen zu geben. Ich besuche fast täglich Cafés, wo ein Kuss zwischen Männern kein Zucken hervorruft, als müsse ich mich der Existenz offen schwulen Lebens in der Gesellschaft vergewissern. In Berlin ist es der „Bierhimmel“, beim letzten Londonaufenthalt war es die „Patisserie Valerie“ in der Old Compton Street und Anfang des Jahres in Amsterdam das „Downtown“ in der Reguliersdwarstraat.

Im Chat via Telefon oder Internet laufen alle sexuellen Orientierungen zusammen: Heterosexuelle Männer lassen sich vom „ersten Mal“ eines Schwulen erzählen, Frauen spielen den Macho gegenüber dem allzu beflissenen Chatter – ein den eigenen Präferenzen gemäßes inszeniertes Geschehen, das wie das spontane Verfassen eines Hörspiels oder eines Theaterstücks erscheint. Freilich, auch wenn die Kommunikation unmittelbar ist, die Begegnung bleibt virtuell. Diese Netze erlauben größtmögliche Offenheit bei gleichzeitig absoluter Anonymität. Wohin sich diese Formen des zwischenmenschlichen Austausches entwickeln werden, mit der sich das Individuum weit von der Realität wegzoomen kann, ist noch nicht abzusehen. Tatsächliche Begegnungen kommen weniger häufig zustande, hohe Telefon- und Internetrechnungen sind dagegen gewiss.

Der homoerotische Blick wird bleiben. Das Haus des amerikanischen Architekten Philip Johnson faszinierte mich schon früh, obwohl es weder stilistisch noch konstruktiv Aufsehen erregend ist. Nur das unbewusste Auge hatte längst an der Abwesenheit jeglicher familiärer Einrichtungen die sexuelle Orientierung erkannt. Die Wohnräume schwuler Männer sind aber eine andere Geschichte.

Ein Freund, dem ich von diesem Beitrag erzählte, gab zu bedenken: „Muss man unsere Plätze denn so öffentlich machen?“ Da schwingt der Wunsch mit, die Räume exklusiv zu gestalten. Doch gibt es heute noch öffentliche Orte, an denen sich zwei Männer nicht küssen können? Oder anders gefragt: Brauchen Schwule noch eigene Orte, um frei agieren zu können? Von dem auf Berlin oder Großstädte allgemein verengten Blick abgesehen, der das schwule Alltagsleben viel liberaler wahrnimmt, als es in den Provinzen der Bundesrepublik sein mag, stellt sich diese Frage zunehmend weniger. Schließlich ist eine der Subkultur entschlüpfte, künstlerisch erhellte Kultur gereift, die mit Faszination und Lust ihren Raum in dieser multikulturellen Welt eingenommen hat. Und ein Spaziergang durch den Park ist immer gesund.

Aaron Betsky: „Queer Space. Architecture and Same-Sex Desire“, New York 1997, William Morrow and Company, 231 Seiten, 13 Dollar Gordon Brent Ingram et al.: „Queers in Space“, Seattle 1997, Bay Press, 15 Dollar Joel Sanders (ed.): „Stud. Architecture of Masculinity“, New York 1996, Princeton Architectural Press, 309 Seiten, 9 Dollar „Der homoerotische Blick“, Kunstforum No. 154, Mai 2001, 34,80 Mark MICHAEL KASISKE, 36, beschäftigt sich als freier Autor mit den Themen Architektur, Fotografie und Design. Er lebt in Berlin