Ritalin – die schnelle Lösung

Ein Medikament soll die Probleme hyperaktiver und verträumter Kinder lösen. Kritiker fürchten das Ruhigstellen von Kindern und eine „Medizinierung der Pädagogik“  ■ Von Kaija Kutter

Der Schulparkplatz ist überfüllt, aus allen Richtungen strömen Eltern auf die kleine Aula zu. An die hundert Mütter und Väter kommen an diesem Abend in die Schnelsener Schule Anna-Susanna-Stieg, um dem Kinderpsychiater Hans Kowerk zuzuhören. Um den „Sinn und Unsinn von Ritalin“ soll es gehen – Ritalin, ein Medikament, das verträumten und hyperaktiven Kindern auf Drängen von Lehrern offenbar auch an Hamburgs Schulen vermehrt verschrieben wird.

Man habe absichtlich keine „Pro und Contra“-Diskussion vorbereitet, um die Eltern nicht zu sehr zu verunsichern, erklären die Veranstalter, ein örtliches Familienzentrum. So geschieht an diesem Abend, was Kritiker die „Medizinierung der Pädagogik“ nennen. Ärzten und Psychiatern wird zugetraut und überlassen, die Probleme zu lösen. In der Annahme, dass fünf Prozent der Kinder an einem möglicher Weise sogar vererbbaren „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“ (ADS) leiden, wird auffälliges Verhalten von Kindern fast ausschließlich auf Stoffwechselstörungen im Gehirn zurückgeführt.

An der Tafel sind zwei chemische Formeln aufgemalt. Die des Amphetamin und des mit dem Amphetmin verwandten Ritalin, auch Methylphenidat genannt. Der Stoff sei eigentlich ein Aufputschmittel, erklärt Hans Kowerk dem Publikum, habe aber bei bestimmten Personen gegenteilige Wirkung. Er mache Kinder, die unruhig sind, „motorisch ruhiger“, halte sie aber „geistig wach“.

Es wirke nicht bei allen Kindern, schränkt der Psychiater ein. Auch könnten ADS und Hyperaktivität „sehr viele Ursachen“ haben. Die Kernhypothese beruhe darauf, dass der Nervenbotenstoff Dopamin bei diesen Menschen zu schnell abgebaut wird, „das ist aber alles noch nicht richtig erforscht“. Kowerk sagt: „Hyperaktiv können auch Kinder sein, die neurologisch ganz gesund sind. Denen Ritalin zu geben, finde ich problematisch.“ Doch auch der neurologische Defekt selbst sei „mit üblichen Untersuchungsmethoden, wo man was 'beweisen' kann, nicht zu fassen“. Kinder, die Ritalin verschrieben bekommen, müssten eigentlich sehr gründlich untersucht werden. Dazu gehören umfangreiche Fragebögen zur Erfassung der Krankengeschichte, Intelligenztests, EEG und das Ausschließen von Epilepsie.

Sie habe für ihren Enkel viele Fragebögen ausgefüllt – ob das richtig war, will eine Dame wissen. Sie habe 600 Mark für diese Untersuchung gezahlt, wann denn dies die Kasse übernehme, fragt eine Mutter. Es geht an diesem Abend sehr schnell um Detailfragen, nicht darum, ob Ritalin überhaupt sinnvoll ist. Mit dem Medikament und auch mit dem verwandten Amphetamin, das gezielter dosiert werden kann, haben nicht wenige Eltern in diesem Saal bereits ihre Erfahrungen. „Wir nehmen seit einem halben Jahr Amphetamin und sind sehr zufrieden“, berichtet eine Mutter. „Wir hatten alle Nebenwirkungen, die es gibt“, erzählt dagegen eine andere. Nein, Ritalin mache nicht körperlich abhängig, bestätigt Kowerk. Und auch die Nebenwirkungen wie Schlaflosigkeit und Appetitmangel gingen nach wenigen Stunden wieder weg, beruhigt er.

„Wie kommt es dann, dass dieses Medikament so umstritten ist?“, will ein Vater wissen, der sich im Internet schlau gemacht hat. „Kinder nehmen das Medikament nicht gerne“, räumt Kowerk ein. „Eine häufige Nebenwirkung ist, dass Kinder darüber depressiv werden.“ Auch sei der Streit um Ritalin „total ideologisiert“. Kowerk: „Das haut voll in den alten Konflikt rein, ob Verhaltensweisen körperlich oder seelisch bedingt sind.“ Selber bezeichnet sich der Vortragende als „Pragmatiker“, der in der Mitte zwischen den Positionen steht. Er begrüßt Ritalin, „wenn es brennt. Wenn ich eine Pille geben kann, eh eine Familie kaputt geht, dann werde ich das machen.“ Aber, räumt der Eimsbüttler Arzt ein, „die Kinder haben diese Probleme, wenn sie in die Schule kommen. Große Klassen sind ein Problem.“

Sollte man dann nicht lieber die Bedingungen ändern, statt einzelne Kinder, die mit ihnen nicht zurecht kommen, zu medikamentisieren? Eine These, die unter den anwesenden Eltern auf spontanen Applaus trifft, die aber untergeht in dem momentanen ADS-Mainstream, dem offenbar auch der Hamburger Berufsverband der Kinderärzte folgt. Dieser erklärte jüngst, man werde sich auf Qualitätsleitlinien zu dem Thema verpflichten und sich mit den Kinder- und Jugendpsychiatern an einen Tisch setzen. „Es gibt eine ganze Reihe von Kindern, die noch nicht diagnostiziert sind“, erklärt der Landesvorsitzende Michael Zinke. Damit es gelinge, „die Spreu vom Weizen zu trennen“ und zu verhindern, dass Ritalin unnütz verschrieben wird, sollten Kinderärzte verstärkt fortgebildet werden. Auch werden man sich um die Finanzierungsprobleme kümmern: „Bisher lag die Untersuchung im Budget nicht drin.“

Zinke geht davon aus, dass Ritalin derzeit „zu wenig verschrieben wird“. Die Wirkungsweise sei zwar noch nicht abschließend erforscht, „aber in vier, fünf Jahren wird man es wissen“. Dann werde man vielleicht auch mit anderen Methoden nachweisen, dass ADS vorliegt. Bisher sei der Erfolg „rein empirisch“, aber, „es wirkt, Kinder und Eltern sind glücklich damit“. Kinder, die unter dem Aufmerksamkeitsdefizit leiden, würden in der Schule plötzlich Erfolg haben und auch für Eltern „leichter lenkbar“. Zinke: „Diese Kinder sind oft isoliert, haben eine unsoziale Art. Wenn man nichts macht, drängt man sie in eine Außenseiterposition.“ Der Kinderarzt ist davon überzeugt, dass Ritalin sogar vor einer späteren Drogensucht schützt. „Kinder gehen in die Drogenszene, weil sie Misserfolge haben.“ Dies habe man an der „rückblickenden Anamnese“ von Jugendlichen, die nicht behandelt wurden, festgestellt.

„Natürlich helfen Drogen“, sagt dazu Rupert Schoch, der therapeutische Leiter des Hamburger „Instituts Coburger“, der sich eine andere Diskussion über Hyperaktivität wünscht: „Es gibt einfach so viele Hinweise, dass diese Krankheitsbilder kein individuelles Problem sind.“ So versagten diese Kinder gerade auf Gebieten wie Konzentrationsfähigkeit, in denen die gesellschaftlichen Anforderungen extrem angestiegen sind. Auch gebe es den Trend, „aus jeder Verhaltensauffälligkeit eine Krankheit zu machen“. Schoch: „Es sind vor allem Jungs und darunter die kreativen, die witzigen, die oppositionellen, die hier pharmakologisch ruhiggestellt werden.“

Kinder, so kritisiert Schoch, hätten heutzutage nur noch sehr wenig Handlungsräume, selbst die Spielzeuge sind nur noch per Knopfdruck zu bedienen. Hinzu käme ein Mangel an sozialen Erfahrungen. „In der alleinerziehenden Kleinfamilie gibt nur noch eine Bezugsperson und damit wenig Psychodynamik.“

Kinder bräuchten Raum, sich auszuprobieren, körperliche Erfahrungen zu machen. Bewegung, so fordert Schoch, der gerne eine Schule für ADS-Kinder aufmachen würde, müsste nicht in den Schulpausen dazwischengeschoben, sondern als festes Unterrichtsfach installiert werden. Klassen, die neu zusammenkommen, müssten sich vier Wochen Zeit für das soziale Zusammenfinden nehmen.

Schoch verlangt: „Wir müssen weg von diesem Effektivitätswahn und davon, Kinder immer nur zu fördern, fördern, fördern“. Ein junger Patient in seiner Therapiegruppe habe sich 30 Sitzungen lang immer nur duselig geredet. „Das brauchte der. Aber danach war er geistig da.“ Hingegen berichteten Jugendliche, die als Kinder Ritalin genommen hatten und anschließend zu ihm in Therapie kamen, sie wüssten gar nicht, wer sie sind.

„Es gibt Methoden, den Eltern zu helfen, die nicht so sehr in die Persönlichkeit des Kindes eingreifen“, sagt auch Christiane Flehmig, Ärztin am Barmbeker „Zentrum für Kindesentwicklung“. Ritalin ganz abzulehnen ist aus ihrer Sicht eine „irrsinnige Position“, es sei durchaus so, „dass Kinder mit Ritalin ruhiger werden und Familien aufblühen“. Dies treffe vor allem für Familien zu, die wenig lernbereit seien. Insgesamt jedoch sei Ritalin eine „Missachtung der Eltern“, weil man ihnen damit das „Gefühl für ihre Kinder nimmt“ und nicht hilft, den Zugang auf andere Weise zu finden.

Flehmig, die Kurse für Eltern anbietet, zweifelt ebenso wie Schoch an der Stimmigkeit der ADS-Diagnose. „Es ist nicht so wahnsinnig neu, was die Hirnforschung da gefunden hat.“ Es sei „alte negative Tradition“ in Deutschland, Hirnfunktionen umzudeuten auf Symp-tome: „Nach dem Motto Symptom weg, dann ist Frieden“. „Wir sollten die Manipulation von Gehirnfunktionen lassen, weil wir darüber einfach zu wenig wissen“, mahnt Schoch und beruft sich dabei auf einen Aufsatz des Frankfurter Mediziners Hans von Lüpke, der „schwerwiegende Zweifel“ am Modell eines genetisch bedingten Mangels an Botenstoffen äußert und auch daran, dass dieser durch Ritalin behoben wird. Die von „neurobiologischen Daten ausgehende Argumentation“, so von Lüpke, „steht nicht auf so sicheren Füßen, wie es von der Literatur her den Anschein hat“. Auch mehr Forschung würde möglicherweise nur zu einem „Datenfriedhof“ führen, weil bereits die Annahmen falsch seien, die von individuellen organischen Störungen ausgehen.

Ritalin sei die Entscheidung der Gesellschaft für „schnelle Lösungen“, sagt Christiane Flehmig. In ihr Zentrum kämen auch Kinder zur Nachbehandlung, die „mit Sicherheit kein ADS haben“. Für Flehmig sind die so genannten „Zappelphilippe“ eine gängige Randgruppe, die schlicht nur ein Potential in sich trägt, „das ganz natürlich im Mensch sein vorhanden ist“. Sie frage sich, was es sei, das „diese Gesellschaft an diesen Menschen so stört“. Flehmig: „Wir konzentrieren uns darauf, dass die Kinder sich anpassen. Das ist eine unmenschliche Art.“ Nicht nur Medikamente, auch Therapien seien fragwürdig, wenn sie nur diesem Ziel dienen.

Eine Erkenntnis eint im Ritalin-Streit alle Seiten. Bereits die Vorstellung, eine organische Störung sei schuld, wenn ein Kind sich auffällig entwickelt, entlastet Eltern von dem Vorwurf, sie hätten etwas falsch gemacht. Das ist wohltuend in Zeiten, in denen Eltern von einer Ratgeberflut über richtige Erziehung erschlagen werden und macht ADS-Diagnostiker zu gefragten Leuten. Dabei gibt es ernst zu nehmende Stimmen wie die Hans von Lüpkes, die in Hyperaktivität nicht mal eine „klar definierte Störung“ sehen, sondern eine „unspezifische Bewältigungsstrategie“ bei Beeinträchtigungen ganz unterschiedlicher Art.