Höhenflug in die tiefsten Abgründe

■ Der Regisseur Christof Loy hat Pjotr Tschaikowskis Oper „Pique Dame“ vom Schwülstig-Schwülen gereinigt und die Qualitäten des Stoffes freigelegt. Der Lohn: Begeisterung beim Premierenpublikum und beim Rezensenten

Nach Vollzug des samstäglichen Lottospiels – immerhin galt es den Jack-Pot zu knacken – war es hilfreich, abends die Oper aufzusuchen, um tiefer in die Geheimnisse des Glücksspiels und letztlich auch des Lebens im Allgemeinen einzudringen. Das Theater am Goetheplatz hatte an diesem Wochenende das geeignete Angebot: Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Oper „Pique Dame“, gesponsored by – nein nicht by Bremer Spielcasino, sondern by Irgendwas mit Airbus und Space. Höhenflug war also angesagt und Höhenflug ist es denn auch geworden und zwar in die tiefsten Abgründe menschlicher Triebe.

Tschaikowski und Triebe klingt an sich nicht gut. Zu heftig wühlt der russische Meister im menschlichen Urschlamm, um anschließend in hohles Pathos zu verfallen. Gleichwohl sollte man sich nicht schrecken lassen: Hat er sich von Alexandr Puschkin inspirieren lassen, ist das musiktheatralische Ergebnis nicht nur respektabel, sondern erstaunlich.

Puschkins „Pique Dame“ erzählt die Geschichte eines deutschen Ingenieurs im Dienste der zaristischen Armee, der aufstiegsorientiert im Glücksspiel die Chance sieht, sein kleines Vermögen so zu mehren, dass er einen angemessenen Platz in der Petersburger Gesellschaft einnehmen kann. Er sucht nach der todsicheren Methode und findet über ein naives, in Liebe zu ihm entflammtes Fräulein Zugang zu einer alten Gräfin, die das Geheimnis der drei Karten kennt. Bedenkenlos treibt er die Alte in den Tod, das Fräulein lässt er fallen und endet im Wahn, denn das kaltblütige Planen des Glücks führt ins Fiasko.

Christof Loy machte sich ans Werk. Nicht so herzerfrischend provokativ wie bei Fausts Verdammnis, eher mit Respekt. Seine Werktreue ging so weit, dass er die literarische Quelle mitinszeniert: Puschkins Novelle, die vor einem Opernbesuch zu lesen, wenig Zeit kostet, den Leser aber wappnet gegen die groschenromanhafte Verzerrung durch Pjotrs Bruder Modest, der das Libretto lieferte. Das funktionierte nicht bruchlos: Schließlich hat Puschkins Hermann nur eine Leidenschaft, das klar kalkulierte, auf sicheren Erfolg gerichtete Spiel. Bei den Brüdern Tschaikowki brennen indes zwei Leidenschaften in seiner Brust: das Spiel und die Liebe. Dabei reicht erfahrungsgemäß schon die eine aus, um im Wahn zu enden.

Loys Hermann ist librettogetreu schon im ersten Akt so augenfällig im Endstadium des Wahns, dass eine Zwangseinweisung unweigerlich erfolgen müsste. So wird schwer nachvollziehbar, wie er die Liebe eines Weibes hat erringen und Zugang zu den besseren Kreisen hat finden können. Doch Hermanns hysterische Überzeichnung schwindet mit zunehmender Nähe zur finalen Katastrophe, und Loy nähert sich immer mehr dem literarischen Original. Das ist gut so, denn auf diese Weise bleiben uns immerhin eine Wasserleiche und eine blutige Selbstentleibung, die nicht recht zu einem deutschen Ingenieur passen will, erspart.

So entsteht wider Erwarten ein „gereinigter“ Tschaikowski. Das Schwülstig-Schwüle, das er auch in seinen Opern nicht immer vermeiden konnte schwindet, löst sich in Lyrik, Spannung, Dramatik und kalten Horror auf. Vom zweiten Akt an hebt auf der Bühne ein höchst wirkungsvolles Spiel mit Wirklichkeit, Theater, Traum und Irrsinn an, das sehr genau verborgene und überraschende Beziehungen zwischen den Personen aufzeigt. Wunderbar in den Handlungsablauf wird Tschaikowskis geniale Mozart-Fälschung im zweiten Akt in die Handlung integriert.

Im Zentrum der Inszenierung steht die alte Gräfin, die verblühte Rokkoko-Schönheit und Trägerin des Geheimnisses der Karten, umweht von der Erotik gesellschaftlichen Glanzes und des Erfolges. Eva Gilhofer verleiht ihr stimmlich und darstellerisch Anmut und Größe und zwar lebendig und als Leich'. Um sie herum ein rundum überzeugendes Ensemble mit einem noblen Fürsten (Armin Kolarczyk), einem nervös bis heldisch singenden tenoralen Spieler (John Uhlenhorst) und einer naiv-tragischen, stimmlich stark geforderten Lisa (Inga Fischer). Dass der Bremer Opernchor sich brillant darbot und beeindruckend in Szene hat setzen lassen, versteht sich fast von selbst.

Ein konzeptionell stimmiges, mit Dämmrung, Nacht, Nebel und höfischem Glanz ebenso schlicht wie virtuos spielendes Bühnenbild (Herbert Murauer), zuweilen Feininger'sche Lichteffekte erzeugend, rundet das überzeugende Gesamtbild ab. Und aus dem Orchestergraben ertönte es denn auch eher diszipliniert puschkinsch als wild tschaikowskisch. Günter Neuhold am Pult gab lyrischen Elementen ihren Raum, dämpfte Aufdringlich-Sentimentales und ließ kurz und damit umso eindringlicher Dramatik auflodern.

Besonders erfreulich, dass man die Mühe nicht scheute, „Pique Dame“ in Originalsprache zu präsentieren. Dies gab mittels der Übertitelungsanlage die Chance, dem Text und dessen szenischer Umsetzung konzentriert folgen zu können.

Große Begeisterung beim Bremer Premierenpublikum, in die sich auch Erleichterung darüber mischte, dass ihm nichts Schockierendes zugemutet wurde. Große Zufriedenheit auch beim Rezensenten. Den Jackpot hat er zwar auch nicht geknackt, aber von Hermanns sonstigen Katastrophen blieb er immerhin noch verschont.

Mario Nitsche

Weitere Aufführungen: 19., 22., 27. und 30. Juni jeweils schon um 19 Uhr im Theater am Goetheplatz