Der Fluch von Waldau

Am Rande Berns liegt ein berühmtes Irrenhaus. Ein Besuch mit bangen Fragen

Bedienstete und Patienten lassen sich auf den ersten Blick nicht unterscheiden

Werden sie uns dabehalten? Diese bange Frage lässt uns nicht los, als wir vor der psychiatrischen Klinik Waldau am Rande Berns stehen. Wohl zu viele Irrenhaus-Filme gesehen, mag da mancher Leser frotzeln. Doch unsere Furcht ist begründet, denn vor rund 70 Jahren wurden hier die Schriftsteller Robert Walser und Friedrich Glauser eingesperrt, und die waren überhaupt nicht verrückt. Egal, wer zum Thema Psychiatrie und Kunst forschen will, der muss Risiken eingehen.

Im Foyer, nur ein paar Schritte entfernt von der Haltestelle des RBS-Bus B, der alle 30 Minuten fährt, überkommt uns erst einmal Verwirrung: Bedienstete und Patienten lassen sich – manchen Psychiatriegegner wird es freuen – beim besten Willen nicht unterscheiden.

Unser Eindruck kommt allerdings nur zustande, weil hier in der eidgenössischen Hauptstadt alle Schwyzerdütsch sprechen – für Norddeutsche wie uns, die wir überzeugt sind, ein dem Hochdeutschen ähnliches Idiom zu sprechen, eine äußerst irritierende Erfahrung.

Ein guter Grund, sich sofort dem eigentlichen Ziel zu widmen: Vorbei am „Holzplatz Waldau“, wo an kalten Tagen Cheminée- und Ofenholz, frisch gehackt von Insassenhand, „zu günstigen Abholpreisen“ angeboten wird, steuern wir zu auf das Berner Psychiatrie-Museum. Hier ist wenigstens ein Bruchteil der Patientenkunst zu sehen ist, die in der 146 Jahre langen Geschichte der Anstalt zustande gekommen ist. Insgesamt 2.500 Bilder und rund 1.500 Seiten Text hat die Klinik archiviert, wobei hier bis Anfang der Sechzigerjahre immer mal wieder ein paar Kunstbanausen dafür verantwortlich waren, dass einige Exponate auf Klinik-Flohmärkten verkauft wurden.

Immerhin ist niemand auf die Idee gekommen, die Schränke wegzugeben, die der Tausendsassa Adolf Wölfli (1864 bis 1930) mit Ornamenten geschmückt hat. Der Zeichner, Schriftsteller, Komponist, Noten- und Zahlensystemerfinder sowie Erschaffer eines Phantasiekosmos namens „Skt.Adolf=Riesen=Welt=Schöpfung“, hat sein gesamtes Werk in Waldau produziert, wo er 35 Jahre lang interniert war.

Neben diesen besonderen Möbelstücken stoßen wir hier vor allem auf Ausstellungsstücke, die die Hirnklempnerbranche von ihrer sehr hässlichen Seite zeigen. Da finden sich Tabellen mit Kategorien wie „aus besonderen Gründen entlassen oder entwichen u. zwar ungeheilt“.

Oder Folterinstrumente verschiedener Art, zum Beispiel der in der Zeit zwischen 1945 und 1950 hergestellte Elektroschock-Apparat Psychotron II, über den der Verfasser des Museumskatalogs kaltherzig schreibt: „Durch elektrischen Strom wurde eine Serie von epileptischen Anfällen erzeugt. Diese Methode kam nur bei schwerer Schizophrenie und chronischer Depression zur Anwendung, wenn andere Behandlungsverfahren versagten.“

Bezeichnend auch, dass gleich drei Stellwände für die „namhaften Psychiater“ reserviert sind, für die „berühmten Patienten“ dagegen nur eine. Von Glauser zum Beispiel, der hier einsaß, weil er sich in der Anstalt Münsingen widerrechtlich Morphium aus der Hausapotheke besorgt hatte, bekommt man ein Foto und eine Taschenbuchausgabe zu sehen. Womöglich verübeln es ihm die Machthaber in Waldau noch ein bisschen, dass er hier Mitte der Dreißigerjahre den Roman „Matto regiert“ verfasste, eine Abrechnung mit der Psychiatrie seiner Zeit.

Auch Robert Walser, der hier im Januar 1929 die „Definitive Diagnose: Schizophrenie“ bescheinigt bekam, hat in Waldau geschrieben – und zwar Texte, die „formal und inhaltlich eigentlich viel ‚vernünftiger‘, manierlicher und braver gehalten sind als jene, die er in Freiheit geschrieben hat“, wie der Walser-Exeget Werner Morlang sagt. Nachdem man den Meister der Miniaturschrift dann allerdings mit Gewalt in eine andere Anstalt verfrachtet hatte, rührte er nie wieder einen Bleistift an.

Als wir später über die Grünflächen des Anstaltsgeländes streunen, um noch Anhaltspunkte dafür zu finden, welche äußeren Einflüsse hier auf Glauser und Walser gewirkt haben könnten, laufen uns plötzlich zwei männliche Pfauen über den Weg, der eine vom Typ Revierverteidiger, der andere eher scheu. Sie scheinen auf du und du zu sein mit den Patienten , denn kaum sehen wir uns mit den Vögeln konfrontiert, ruft ein Mann dem Stärkeren von ihnen zu: „Fang!“ Als Objekt der Gefangennahme waren offensichtlich wir ausersehen. Es scheint so, als wolle der Patient uns – die Touristen, die gerade dabei sind, eine wenig übliche Urlaubsattraktion auszukundschaften – mit einem Fluch belegen.

Und es hat gewirkt: Erst kürzlich animierte der Katalog aus dem Museum eine Milchpackung, mit der er sich zur selben Zeit in einem Rucksack befand, zum Auslaufen. Daraufhin klebten Teile einer Zeitung, die nahe dem Unglücksort deponiert war, am Mitbringsel aus Waldau fest, wodurch ein wichtiger Artikel unlesbar wurde. Zwei Tage später das nächste Desaster, als sich aus einer Zeitschrift, unvorsichtigerweise in der Nachbarschaft des Katalogs platziert, mehrere Seiten lösten – wieder war die angetrocknete Milch schuld.

Nein, dabehalten wurden wir zwar nicht, aber dafür werden wir Waldau jetzt nicht mehr los.

RENÉ MARTENS